Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

den. Am großen Schleier der Minerva
sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle,
ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwie-
tracht wirken."

Den Deutschen ists also keine Schande,
daß sie von andern Nationen, alten und
neuen, lernen. Das alte Vernunfttesta-
ment, wie der Autor die Weisheit der Grie-
chen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch
durch die Weisheit der Neuern unkräftig
gemacht worden.

So darf sich auch kein Volk Europa's
vom andern abschliessen, und thöricht sa-
gen: "bei mir allein, bei mir wohnt
alle Weisheit." Der menschliche Verstand
ist wie die große Weltseele; sie erfüllt alle
Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen;
belebend, ja selbst neuorganisirend dringt
sie aus allen in alle Körper.

den. Am großen Schleier der Minerva
ſollen alle Voͤlker, jedes auf ſeiner Stelle,
ohne Beeintraͤchtigung, ohne ſtolze Zwie-
tracht wirken.“

Den Deutſchen iſts alſo keine Schande,
daß ſie von andern Nationen, alten und
neuen, lernen. Das alte Vernunftteſta-
ment, wie der Autor die Weisheit der Grie-
chen nennt, iſt gewiß nicht verjaͤhrt, noch
durch die Weisheit der Neuern unkraͤftig
gemacht worden.

So darf ſich auch kein Volk Europa's
vom andern abſchlieſſen, und thoͤricht ſa-
gen: „bei mir allein, bei mir wohnt
alle Weisheit.“ Der menſchliche Verſtand
iſt wie die große Weltſeele; ſie erfuͤllt alle
Gefaͤße, die ſie aufzunehmen vermoͤgen;
belebend, ja ſelbſt neuorganiſirend dringt
ſie aus allen in alle Koͤrper.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0041" n="36"/>
den. Am großen Schleier der Minerva<lb/>
&#x017F;ollen alle Vo&#x0364;lker, jedes auf &#x017F;einer Stelle,<lb/>
ohne Beeintra&#x0364;chtigung, ohne &#x017F;tolze Zwie-<lb/>
tracht wirken.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Den Deut&#x017F;chen i&#x017F;ts al&#x017F;o keine Schande,<lb/>
daß &#x017F;ie von andern Nationen, alten und<lb/>
neuen, lernen. Das alte Vernunftte&#x017F;ta-<lb/>
ment, wie der Autor die Weisheit der Grie-<lb/>
chen nennt, i&#x017F;t gewiß nicht verja&#x0364;hrt, noch<lb/>
durch die Weisheit der Neuern unkra&#x0364;ftig<lb/>
gemacht worden.</p><lb/>
        <p>So darf &#x017F;ich auch kein Volk Europa's<lb/>
vom andern ab&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, und tho&#x0364;richt &#x017F;a-<lb/>
gen: &#x201E;bei mir <hi rendition="#g">allein</hi>, bei mir wohnt<lb/><hi rendition="#g">alle</hi> Weisheit.&#x201C; Der men&#x017F;chliche Ver&#x017F;tand<lb/>
i&#x017F;t wie die große Welt&#x017F;eele; &#x017F;ie erfu&#x0364;llt alle<lb/>
Gefa&#x0364;ße, die &#x017F;ie aufzunehmen vermo&#x0364;gen;<lb/>
belebend, ja &#x017F;elb&#x017F;t neuorgani&#x017F;irend dringt<lb/>
&#x017F;ie aus allen in alle Ko&#x0364;rper.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0041] den. Am großen Schleier der Minerva ſollen alle Voͤlker, jedes auf ſeiner Stelle, ohne Beeintraͤchtigung, ohne ſtolze Zwie- tracht wirken.“ Den Deutſchen iſts alſo keine Schande, daß ſie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunftteſta- ment, wie der Autor die Weisheit der Grie- chen nennt, iſt gewiß nicht verjaͤhrt, noch durch die Weisheit der Neuern unkraͤftig gemacht worden. So darf ſich auch kein Volk Europa's vom andern abſchlieſſen, und thoͤricht ſa- gen: „bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.“ Der menſchliche Verſtand iſt wie die große Weltſeele; ſie erfuͤllt alle Gefaͤße, die ſie aufzunehmen vermoͤgen; belebend, ja ſelbſt neuorganiſirend dringt ſie aus allen in alle Koͤrper.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/41
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/41>, abgerufen am 29.03.2024.