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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793.

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an sich zieht und Kräfte fortpflanzet. In
den ältesten Sprachen also ist Geist der
Ausdruck unsichtbarer strebender Gewalt;
dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leich-
nam entweder die Bezeichnung todter Träg-
heit, oder einer organischen Wohnung, eines
Werkzeuges, das der einwohnende Geist als
ein mächtiger Künstler gebrauchet.

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfol-
gender, in einander verketteter Zustände;
sie ist ein Maas der Dinge nach der Folge
unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr
gemessener Inhalt.

Geist der Zeiten hieße also die
Summe der Gedanken, Gesinnungen, An-
strebungen, Triebe und lebendigen Kräfte,
die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge
mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich
äußern. Die Elemente der Begebenheiten
sehen wir nie; wir bemerken blos ihre Er-

an ſich zieht und Kraͤfte fortpflanzet. In
den aͤlteſten Sprachen alſo iſt Geiſt der
Ausdruck unſichtbarer ſtrebender Gewalt;
dagegen Leib, Fleiſch, Koͤrper, Leich-
nam entweder die Bezeichnung todter Traͤg-
heit, oder einer organiſchen Wohnung, eines
Werkzeuges, das der einwohnende Geiſt als
ein maͤchtiger Kuͤnſtler gebrauchet.

Die Zeit iſt ein Gedankenbild nachfol-
gender, in einander verketteter Zuſtaͤnde;
ſie iſt ein Maas der Dinge nach der Folge
unſrer Gedanken; die Dinge ſelbſt ſind ihr
gemeſſener Inhalt.

Geiſt der Zeiten hieße alſo die
Summe der Gedanken, Geſinnungen, An-
ſtrebungen, Triebe und lebendigen Kraͤfte,
die in einem beſtimmten Fortlauf der Dinge
mit gegebnen Urſachen und Wirkungen ſich
aͤußern. Die Elemente der Begebenheiten
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[14/0019] an ſich zieht und Kraͤfte fortpflanzet. In den aͤlteſten Sprachen alſo iſt Geiſt der Ausdruck unſichtbarer ſtrebender Gewalt; dagegen Leib, Fleiſch, Koͤrper, Leich- nam entweder die Bezeichnung todter Traͤg- heit, oder einer organiſchen Wohnung, eines Werkzeuges, das der einwohnende Geiſt als ein maͤchtiger Kuͤnſtler gebrauchet. Die Zeit iſt ein Gedankenbild nachfol- gender, in einander verketteter Zuſtaͤnde; ſie iſt ein Maas der Dinge nach der Folge unſrer Gedanken; die Dinge ſelbſt ſind ihr gemeſſener Inhalt. Geiſt der Zeiten hieße alſo die Summe der Gedanken, Geſinnungen, An- ſtrebungen, Triebe und lebendigen Kraͤfte, die in einem beſtimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Urſachen und Wirkungen ſich aͤußern. Die Elemente der Begebenheiten ſehen wir nie; wir bemerken blos ihre Er-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/19>, abgerufen am 23.04.2024.