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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Solch einen weiten Strich hat die zum Theil verzerrte,
überall aber mehr oder minder unbärtige östliche Bildung;
und daß sie nicht Abstammung von Einem Volk sei, zeigen
die mancherlei Sprachen und Sitten der Nationen. Was
wäre also ihre Ursache? was z. B. hat so verschiedne Völker be-
waffnet, gegen den Bart zu streiten, oder sich die Ohren zu
zerren, oder sich die Nase und Lippen zu durchboren? Mich
dünkt, eine ursprüngliche Unförmlichkeit muß zum Grunde
gelegen haben, die nachher eine barbarische Kunst zu Hülfe
rief und endlich eine alte Sitte der Väter wurde. Die Ab-
artung der Thiere zeigt sich, ehe sie die Gestalt ergreift, an
Haar und Ohren; weiter hinab an den Füßen, so wie sie
auch im Gesicht zuerst das Kreuz desselben, das Profil än-
dert. Wenn die Genealogie der Völker, die Beschaffen-
heit dieser weitentlegnen Erdstriche und Länder, am meisten
aber die Abweichungen der innern Physiologie der Völkerschaf-
ten mehr untersucht seyn wird: so werden wir auch hierüber
nähere Aufschlüsse erhalten. Und sollte der der Wissenschaf-
ten und Nationen kundige Pallas nicht der Erste seyn, der
uns hierüber ein specilegium anthropologicum gäbe?



III. Or-

Solch einen weiten Strich hat die zum Theil verzerrte,
uͤberall aber mehr oder minder unbaͤrtige oͤſtliche Bildung;
und daß ſie nicht Abſtammung von Einem Volk ſei, zeigen
die mancherlei Sprachen und Sitten der Nationen. Was
waͤre alſo ihre Urſache? was z. B. hat ſo verſchiedne Voͤlker be-
waffnet, gegen den Bart zu ſtreiten, oder ſich die Ohren zu
zerren, oder ſich die Naſe und Lippen zu durchboren? Mich
duͤnkt, eine urſpruͤngliche Unfoͤrmlichkeit muß zum Grunde
gelegen haben, die nachher eine barbariſche Kunſt zu Huͤlfe
rief und endlich eine alte Sitte der Vaͤter wurde. Die Ab-
artung der Thiere zeigt ſich, ehe ſie die Geſtalt ergreift, an
Haar und Ohren; weiter hinab an den Fuͤßen, ſo wie ſie
auch im Geſicht zuerſt das Kreuz deſſelben, das Profil aͤn-
dert. Wenn die Genealogie der Voͤlker, die Beſchaffen-
heit dieſer weitentlegnen Erdſtriche und Laͤnder, am meiſten
aber die Abweichungen der innern Phyſiologie der Voͤlkerſchaf-
ten mehr unterſucht ſeyn wird: ſo werden wir auch hieruͤber
naͤhere Aufſchluͤſſe erhalten. Und ſollte der der Wiſſenſchaf-
ten und Nationen kundige Pallas nicht der Erſte ſeyn, der
uns hieruͤber ein ſpecilegium anthropologicum gaͤbe?



III. Or-
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[23/0035] Solch einen weiten Strich hat die zum Theil verzerrte, uͤberall aber mehr oder minder unbaͤrtige oͤſtliche Bildung; und daß ſie nicht Abſtammung von Einem Volk ſei, zeigen die mancherlei Sprachen und Sitten der Nationen. Was waͤre alſo ihre Urſache? was z. B. hat ſo verſchiedne Voͤlker be- waffnet, gegen den Bart zu ſtreiten, oder ſich die Ohren zu zerren, oder ſich die Naſe und Lippen zu durchboren? Mich duͤnkt, eine urſpruͤngliche Unfoͤrmlichkeit muß zum Grunde gelegen haben, die nachher eine barbariſche Kunſt zu Huͤlfe rief und endlich eine alte Sitte der Vaͤter wurde. Die Ab- artung der Thiere zeigt ſich, ehe ſie die Geſtalt ergreift, an Haar und Ohren; weiter hinab an den Fuͤßen, ſo wie ſie auch im Geſicht zuerſt das Kreuz deſſelben, das Profil aͤn- dert. Wenn die Genealogie der Voͤlker, die Beſchaffen- heit dieſer weitentlegnen Erdſtriche und Laͤnder, am meiſten aber die Abweichungen der innern Phyſiologie der Voͤlkerſchaf- ten mehr unterſucht ſeyn wird: ſo werden wir auch hieruͤber naͤhere Aufſchluͤſſe erhalten. Und ſollte der der Wiſſenſchaf- ten und Nationen kundige Pallas nicht der Erſte ſeyn, der uns hieruͤber ein ſpecilegium anthropologicum gaͤbe? III. Or-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/35>, abgerufen am 28.03.2024.