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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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glücken würde, denn wie kann ein Lahmer ge-
hen? Daher also auch, daß unsern meisten
neuen Gedichten, die Festigkeit, die Bestimmt-
heit, der runde Contour so oft fehlet, den nur
der erste Hinwurf verleihet, und kein späteres
Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer
und Ossian würden wir bey solchem poetischen
Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als ei-
nem Raphael oder Apelles, der durch Einen
Umriß sich als Apelles zeigt, der schwachhän-
dig, krizzelnde Lehrknabe -- u. s. w.



... Als ob ich mit dem, was ich neulich
vom ersten Wurfe eines Gedichts
gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey
unsrer jungen Dichterlinge, auch nur im min-
zu statten kommen könnte? Denn was ist doch
bey ihnen für ein Fehler sichtbarer, als eben
die Unbestimmtheit, Unsicherheit der Gedanken
und der Worte, daß sie nie wissen, was sie sa-
gen wollen, oder sollen? -- Weiß aber je-
mand das nicht, wie kann ers durch alle Kor-
rektur lernen? Durch Schnitzeley kann da je
ein Bratspieß zur marmornen Bildsäule Apolls
werden?

Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwär-
tigen Dichtkunst sind hierinn zwey Hauptfälle

mög-

gluͤcken wuͤrde, denn wie kann ein Lahmer ge-
hen? Daher alſo auch, daß unſern meiſten
neuen Gedichten, die Feſtigkeit, die Beſtimmt-
heit, der runde Contour ſo oft fehlet, den nur
der erſte Hinwurf verleihet, und kein ſpaͤteres
Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer
und Oſſian wuͤrden wir bey ſolchem poetiſchen
Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als ei-
nem Raphael oder Apelles, der durch Einen
Umriß ſich als Apelles zeigt, der ſchwachhaͤn-
dig, krizzelnde Lehrknabe — u. ſ. w.



Als ob ich mit dem, was ich neulich
vom erſten Wurfe eines Gedichts
gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey
unſrer jungen Dichterlinge, auch nur im min-
zu ſtatten kommen koͤnnte? Denn was iſt doch
bey ihnen fuͤr ein Fehler ſichtbarer, als eben
die Unbeſtimmtheit, Unſicherheit der Gedanken
und der Worte, daß ſie nie wiſſen, was ſie ſa-
gen wollen, oder ſollen? — Weiß aber je-
mand das nicht, wie kann ers durch alle Kor-
rektur lernen? Durch Schnitzeley kann da je
ein Bratſpieß zur marmornen Bildſaͤule Apolls
werden?

Mich duͤnkt, nach der Lage unſrer gegenwaͤr-
tigen Dichtkunſt ſind hierinn zwey Hauptfaͤlle

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[43/0047] gluͤcken wuͤrde, denn wie kann ein Lahmer ge- hen? Daher alſo auch, daß unſern meiſten neuen Gedichten, die Feſtigkeit, die Beſtimmt- heit, der runde Contour ſo oft fehlet, den nur der erſte Hinwurf verleihet, und kein ſpaͤteres Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer und Oſſian wuͤrden wir bey ſolchem poetiſchen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als ei- nem Raphael oder Apelles, der durch Einen Umriß ſich als Apelles zeigt, der ſchwachhaͤn- dig, krizzelnde Lehrknabe — u. ſ. w. … Als ob ich mit dem, was ich neulich vom erſten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey unſrer jungen Dichterlinge, auch nur im min- zu ſtatten kommen koͤnnte? Denn was iſt doch bey ihnen fuͤr ein Fehler ſichtbarer, als eben die Unbeſtimmtheit, Unſicherheit der Gedanken und der Worte, daß ſie nie wiſſen, was ſie ſa- gen wollen, oder ſollen? — Weiß aber je- mand das nicht, wie kann ers durch alle Kor- rektur lernen? Durch Schnitzeley kann da je ein Bratſpieß zur marmornen Bildſaͤule Apolls werden? Mich duͤnkt, nach der Lage unſrer gegenwaͤr- tigen Dichtkunſt ſind hierinn zwey Hauptfaͤlle moͤg-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/47>, abgerufen am 16.04.2024.