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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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einer kleinen Nation am Amazonenfluß: "ein Theil
"von ihren Wörtern könnte nicht, auch nicht ein-
"mal sehr unvollständig geschrieben werden. Man
"müste wenigstens neun oder zehn Sylben dazu
"gebrauchen, wo sie in der Aussprache kaum drei
"auszusprechen scheinen." La Loubere von der
Siamschen Sprache: "unter zehn Wörtern, die der
"Europäer ausspricht, versteht ein gebohrner Sia-
"mer vielleicht kein einziges; man mag sich Mühe
"geben, so viel man will, ihre Sprache mit un-
"sern Buchstaben auszudrükken." Und was brau-
chen wir Völker aus so entlegenen Enden der Erde?
Unser kleine Rest von Wilden in Europa, Esthlän-
der und Lappen u. s. w. haben oft eben so halb ar-
tikulirte und unschreibbare Schälle, als Huronen
und Peruaner. Russen und Polen, so lange ihre
Sprachen geschrieben und schriftgebildet sind,
aspiriren noch immer so, daß der wahre Ton ihrer
Organisation nicht durch Buchstaben gemahlt wer-
den kann. Der Engländer, wie quälet er sich
seine Töne zu schreiben, und wie wenig ist der noch,
der geschriebnes Englisch versteht, ein sprechender
Engländer? Der Franzose, der weniger aus der

Kehle

einer kleinen Nation am Amazonenfluß: „ein Theil
„von ihren Woͤrtern koͤnnte nicht, auch nicht ein-
„mal ſehr unvollſtaͤndig geſchrieben werden. Man
„muͤſte wenigſtens neun oder zehn Sylben dazu
„gebrauchen, wo ſie in der Ausſprache kaum drei
„auszuſprechen ſcheinen.„ La Loubere von der
Siamſchen Sprache: „unter zehn Woͤrtern, die der
„Europaͤer ausſpricht, verſteht ein gebohrner Sia-
„mer vielleicht kein einziges; man mag ſich Muͤhe
„geben, ſo viel man will, ihre Sprache mit un-
„ſern Buchſtaben auszudruͤkken.„ Und was brau-
chen wir Voͤlker aus ſo entlegenen Enden der Erde?
Unſer kleine Reſt von Wilden in Europa, Eſthlaͤn-
der und Lappen u. ſ. w. haben oft eben ſo halb ar-
tikulirte und unſchreibbare Schaͤlle, als Huronen
und Peruaner. Ruſſen und Polen, ſo lange ihre
Sprachen geſchrieben und ſchriftgebildet ſind,
aſpiriren noch immer ſo, daß der wahre Ton ihrer
Organiſation nicht durch Buchſtaben gemahlt wer-
den kann. Der Englaͤnder, wie quaͤlet er ſich
ſeine Toͤne zu ſchreiben, und wie wenig iſt der noch,
der geſchriebnes Engliſch verſteht, ein ſprechender
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[15/0021] einer kleinen Nation am Amazonenfluß: „ein Theil „von ihren Woͤrtern koͤnnte nicht, auch nicht ein- „mal ſehr unvollſtaͤndig geſchrieben werden. Man „muͤſte wenigſtens neun oder zehn Sylben dazu „gebrauchen, wo ſie in der Ausſprache kaum drei „auszuſprechen ſcheinen.„ La Loubere von der Siamſchen Sprache: „unter zehn Woͤrtern, die der „Europaͤer ausſpricht, verſteht ein gebohrner Sia- „mer vielleicht kein einziges; man mag ſich Muͤhe „geben, ſo viel man will, ihre Sprache mit un- „ſern Buchſtaben auszudruͤkken.„ Und was brau- chen wir Voͤlker aus ſo entlegenen Enden der Erde? Unſer kleine Reſt von Wilden in Europa, Eſthlaͤn- der und Lappen u. ſ. w. haben oft eben ſo halb ar- tikulirte und unſchreibbare Schaͤlle, als Huronen und Peruaner. Ruſſen und Polen, ſo lange ihre Sprachen geſchrieben und ſchriftgebildet ſind, aſpiriren noch immer ſo, daß der wahre Ton ihrer Organiſation nicht durch Buchſtaben gemahlt wer- den kann. Der Englaͤnder, wie quaͤlet er ſich ſeine Toͤne zu ſchreiben, und wie wenig iſt der noch, der geſchriebnes Engliſch verſteht, ein ſprechender Englaͤnder? Der Franzoſe, der weniger aus der Kehle

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/21>, abgerufen am 29.03.2024.