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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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tausenden der Abartung selbst wieder Jahrhunderte
ihres Lebens hindurch, verfeinert, civilisirt und
humanisirt worden: eine solche Sprache, das Kind
der Vernunft und Gesellschaft, kann wenig oder
nichts mehr von der Kindheit ihrer ersten Mutter
wissen; allein die alten, die wilden Sprachen, je
näher zum Ursprunge, enthalten davon desto mehr.
Jch kann hier noch nicht von der geringsten
menschlichen Bildung der Sprache reden: son-
dern nur rohe Materialien betrachten -- Noch
ersistirt für mich kein Wort: sondern nur Töne
zum Wort einer Empfindung; aber sehet! in den
genannten Sprachen, in ihren Jnterjektionen, in
den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wie
viel aufgefangene Reste dieser Töne! Die ältesten
Morgenländischen Sprachen sind voll von Aus-
rüfen, für die wir spätergebildeten Völker oft nichts
als Lücken, oder stumpfen, tauben Mißverstand
haben. Jn ihren Elegien tönen, wie bei den
Wilden auf ihren Gräbern, jene Heul- und Kla-
getöne, eine fortgehende Jnterjektion der Natur-
sprache; in ihren Lobpsalmen das Freudengeschrei
und die wiederkommenden Hallelujahs, die Schaw

aus

tauſenden der Abartung ſelbſt wieder Jahrhunderte
ihres Lebens hindurch, verfeinert, civiliſirt und
humaniſirt worden: eine ſolche Sprache, das Kind
der Vernunft und Geſellſchaft, kann wenig oder
nichts mehr von der Kindheit ihrer erſten Mutter
wiſſen; allein die alten, die wilden Sprachen, je
naͤher zum Urſprunge, enthalten davon deſto mehr.
Jch kann hier noch nicht von der geringſten
menſchlichen Bildung der Sprache reden: ſon-
dern nur rohe Materialien betrachten — Noch
erſiſtirt fuͤr mich kein Wort: ſondern nur Toͤne
zum Wort einer Empfindung; aber ſehet! in den
genannten Sprachen, in ihren Jnterjektionen, in
den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wie
viel aufgefangene Reſte dieſer Toͤne! Die aͤlteſten
Morgenlaͤndiſchen Sprachen ſind voll von Aus-
ruͤfen, fuͤr die wir ſpaͤtergebildeten Voͤlker oft nichts
als Luͤcken, oder ſtumpfen, tauben Mißverſtand
haben. Jn ihren Elegien toͤnen, wie bei den
Wilden auf ihren Graͤbern, jene Heul- und Kla-
getoͤne, eine fortgehende Jnterjektion der Natur-
ſprache; in ihren Lobpſalmen das Freudengeſchrei
und die wiederkommenden Hallelujahs, die Schaw

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[11/0017] tauſenden der Abartung ſelbſt wieder Jahrhunderte ihres Lebens hindurch, verfeinert, civiliſirt und humaniſirt worden: eine ſolche Sprache, das Kind der Vernunft und Geſellſchaft, kann wenig oder nichts mehr von der Kindheit ihrer erſten Mutter wiſſen; allein die alten, die wilden Sprachen, je naͤher zum Urſprunge, enthalten davon deſto mehr. Jch kann hier noch nicht von der geringſten menſchlichen Bildung der Sprache reden: ſon- dern nur rohe Materialien betrachten — Noch erſiſtirt fuͤr mich kein Wort: ſondern nur Toͤne zum Wort einer Empfindung; aber ſehet! in den genannten Sprachen, in ihren Jnterjektionen, in den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wie viel aufgefangene Reſte dieſer Toͤne! Die aͤlteſten Morgenlaͤndiſchen Sprachen ſind voll von Aus- ruͤfen, fuͤr die wir ſpaͤtergebildeten Voͤlker oft nichts als Luͤcken, oder ſtumpfen, tauben Mißverſtand haben. Jn ihren Elegien toͤnen, wie bei den Wilden auf ihren Graͤbern, jene Heul- und Kla- getoͤne, eine fortgehende Jnterjektion der Natur- ſprache; in ihren Lobpſalmen das Freudengeſchrei und die wiederkommenden Hallelujahs, die Schaw aus

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/17>, abgerufen am 29.03.2024.