Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

irrender Vögel, kann leichter jenes Natur verstehen
und das Geschrei dieser zu verstehen glauben, als
wir in unsern Behausungen. Der Sohn des Wal-
des, der Jäger, versteht die Stimme des Hirsches,
und der Lappländer seines Rennthiers -- Doch
alles das folgt oder ist Ausnahme. Eigentlich ist
diese Sprache der Natur eine Völkersprache
für jede Gattung unter sich, und so hat auch
der Mensch die Seinige
-- --

Nun sind freilich diese Töne sehr einfach;
und wenn sie artikulirt, und als Jnterjektionen
aufs Papier hinbuchstabiert werden; so haben die
entgegengeseztesten Empfindungen fast Einen Aus-
druck. Das matte Ach! ist sowohl Laut der zer-
schmelzenden Liebe, als der sinkenden Verzweif-
lung; das feurige O! sowohl Ausbruch der plöz-
lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der stei-
genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam-
merns; allein sind denn diese Laute da, um als
Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden?
Die Thräne, die in diesem trüben, erloschnen,
nach Trost schmachtenden Auge schwimmt -- wie
rührend ist sie im ganzen Gemälde des Antlitzes

der

irrender Voͤgel, kann leichter jenes Natur verſtehen
und das Geſchrei dieſer zu verſtehen glauben, als
wir in unſern Behauſungen. Der Sohn des Wal-
des, der Jaͤger, verſteht die Stimme des Hirſches,
und der Lapplaͤnder ſeines Rennthiers — Doch
alles das folgt oder iſt Ausnahme. Eigentlich iſt
dieſe Sprache der Natur eine Voͤlkerſprache
fuͤr jede Gattung unter ſich, und ſo hat auch
der Menſch die Seinige
— —

Nun ſind freilich dieſe Toͤne ſehr einfach;
und wenn ſie artikulirt, und als Jnterjektionen
aufs Papier hinbuchſtabiert werden; ſo haben die
entgegengeſezteſten Empfindungen faſt Einen Aus-
druck. Das matte Ach! iſt ſowohl Laut der zer-
ſchmelzenden Liebe, als der ſinkenden Verzweif-
lung; das feurige O! ſowohl Ausbruch der ploͤz-
lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der ſtei-
genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam-
merns; allein ſind denn dieſe Laute da, um als
Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden?
Die Thraͤne, die in dieſem truͤben, erloſchnen,
nach Troſt ſchmachtenden Auge ſchwimmt — wie
ruͤhrend iſt ſie im ganzen Gemaͤlde des Antlitzes

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0014" n="8"/>
irrender Vo&#x0364;gel, kann leichter jenes Natur ver&#x017F;tehen<lb/>
und das Ge&#x017F;chrei die&#x017F;er zu ver&#x017F;tehen glauben, als<lb/>
wir in un&#x017F;ern Behau&#x017F;ungen. Der Sohn des Wal-<lb/>
des, der Ja&#x0364;ger, ver&#x017F;teht die Stimme des Hir&#x017F;ches,<lb/>
und der Lappla&#x0364;nder &#x017F;eines Rennthiers &#x2014; Doch<lb/>
alles das folgt oder i&#x017F;t Ausnahme. Eigentlich i&#x017F;t<lb/><hi rendition="#fr">die&#x017F;e Sprache der Natur eine Vo&#x0364;lker&#x017F;prache<lb/>
fu&#x0364;r jede Gattung unter &#x017F;ich, und &#x017F;o hat auch<lb/>
der Men&#x017F;ch die Seinige</hi> &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
          <p>Nun &#x017F;ind freilich <hi rendition="#fr">die&#x017F;e To&#x0364;ne &#x017F;ehr einfach;</hi><lb/>
und wenn &#x017F;ie artikulirt, und als Jnterjektionen<lb/>
aufs Papier hinbuch&#x017F;tabiert werden; &#x017F;o haben die<lb/>
entgegenge&#x017F;ezte&#x017F;ten Empfindungen fa&#x017F;t Einen Aus-<lb/>
druck. Das matte Ach! i&#x017F;t &#x017F;owohl Laut der zer-<lb/>
&#x017F;chmelzenden Liebe, als der &#x017F;inkenden Verzweif-<lb/>
lung; das feurige O! &#x017F;owohl Ausbruch der plo&#x0364;z-<lb/>
lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der &#x017F;tei-<lb/>
genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam-<lb/>
merns; allein &#x017F;ind denn die&#x017F;e Laute da, um als<lb/>
Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden?<lb/>
Die Thra&#x0364;ne, die in die&#x017F;em tru&#x0364;ben, erlo&#x017F;chnen,<lb/>
nach Tro&#x017F;t &#x017F;chmachtenden Auge &#x017F;chwimmt &#x2014; wie<lb/>
ru&#x0364;hrend i&#x017F;t &#x017F;ie im ganzen Gema&#x0364;lde des Antlitzes<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0014] irrender Voͤgel, kann leichter jenes Natur verſtehen und das Geſchrei dieſer zu verſtehen glauben, als wir in unſern Behauſungen. Der Sohn des Wal- des, der Jaͤger, verſteht die Stimme des Hirſches, und der Lapplaͤnder ſeines Rennthiers — Doch alles das folgt oder iſt Ausnahme. Eigentlich iſt dieſe Sprache der Natur eine Voͤlkerſprache fuͤr jede Gattung unter ſich, und ſo hat auch der Menſch die Seinige — — Nun ſind freilich dieſe Toͤne ſehr einfach; und wenn ſie artikulirt, und als Jnterjektionen aufs Papier hinbuchſtabiert werden; ſo haben die entgegengeſezteſten Empfindungen faſt Einen Aus- druck. Das matte Ach! iſt ſowohl Laut der zer- ſchmelzenden Liebe, als der ſinkenden Verzweif- lung; das feurige O! ſowohl Ausbruch der ploͤz- lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der ſtei- genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam- merns; allein ſind denn dieſe Laute da, um als Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden? Die Thraͤne, die in dieſem truͤben, erloſchnen, nach Troſt ſchmachtenden Auge ſchwimmt — wie ruͤhrend iſt ſie im ganzen Gemaͤlde des Antlitzes der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/14
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/14>, abgerufen am 25.04.2024.