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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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ruhigen können, (worüber Herr von Haller klagt,) son-
dern der noch viel weiter reichenden Unbegreiflichkeit,
wie man, mit und ohne Logik, eine Metaphysik
Jahrtausende lang hat suchen können, ohne auch nur
den ersten, einzig nothwendigen Schritt zu thun, durch
welchen man sich ihr hätte nähern können.

Indessen findet sich doch ein sehr wichtiger Unter-
schied zwischen dem Begriffe des Staats, und den me-
taphysischen Begriffen. Der Staat ist ein unendlich wich-
tiger praktischer Gegenstand; er ist von den grössten,
rechtschaffensten, würdigsten und klügsten Männern nicht
bloss besprochen, sondern auch behandelt worden; und
zwar bey den verschiedensten Verfassungen, in ruhigen
sowohl als in unruhigen Zeiten. Die Ansichten dieser
Männer waren freylich höchst verschieden; aber wie un-
zulänglich auch ihre Theorieen im Allgemeinen seyn
mochten, in der Praxis konnten sie nicht dasjenige, wor-
auf die ganze Möglichkeit des Staats überhaupt beruht,
verfehlen; sie müssen es im Einzelnen erkannt haben,
wenn sie es auch nicht mit wissenschaftlicher Genauig-
keit ausgesprochen haben.

Fragt man den gemeinen, verständigen Bürger, warum
er nicht den Wahnwitz des Caligula, nicht die Grau-
samkeit des Nero, -- und überhaupt keinen orientali-
schen Despotismus fürchte; so wird er antworten: "das
"kommt bey uns nicht vor! Es ist nicht Sitte. Es fällt
"dem Fürsten nicht ein; oder setzen wir den äussersten
"Fall, es fiele ihm, wie ein böser Traum, so etwas ein,
"so würde er sich dennoch enthalten, die Nation in Ver-
"suchung zu führen."

Und fragt man den grossen, vom Herrn von Hal-
ler
so hart angeklagten, Montesquieu, wie denn seine
vertheilten Gewalten zusammen wirken sollen: so antwor-
tet er in dem berühmten Capitel von der englischen
Verfassung *), Ces trois puissances devroient former un

*) Esprit des loix, liv. XI., chap. VI., gegen das Ende.

ruhigen können, (worüber Herr von Haller klagt,) son-
dern der noch viel weiter reichenden Unbegreiflichkeit,
wie man, mit und ohne Logik, eine Metaphysik
Jahrtausende lang hat suchen können, ohne auch nur
den ersten, einzig nothwendigen Schritt zu thun, durch
welchen man sich ihr hätte nähern können.

Indessen findet sich doch ein sehr wichtiger Unter-
schied zwischen dem Begriffe des Staats, und den me-
taphysischen Begriffen. Der Staat ist ein unendlich wich-
tiger praktischer Gegenstand; er ist von den gröſsten,
rechtschaffensten, würdigsten und klügsten Männern nicht
bloſs besprochen, sondern auch behandelt worden; und
zwar bey den verschiedensten Verfassungen, in ruhigen
sowohl als in unruhigen Zeiten. Die Ansichten dieser
Männer waren freylich höchst verschieden; aber wie un-
zulänglich auch ihre Theorieen im Allgemeinen seyn
mochten, in der Praxis konnten sie nicht dasjenige, wor-
auf die ganze Möglichkeit des Staats überhaupt beruht,
verfehlen; sie müssen es im Einzelnen erkannt haben,
wenn sie es auch nicht mit wissenschaftlicher Genauig-
keit ausgesprochen haben.

Fragt man den gemeinen, verständigen Bürger, warum
er nicht den Wahnwitz des Caligula, nicht die Grau-
samkeit des Nero, — und überhaupt keinen orientali-
schen Despotismus fürchte; so wird er antworten: „das
„kommt bey uns nicht vor! Es ist nicht Sitte. Es fällt
„dem Fürsten nicht ein; oder setzen wir den äuſsersten
„Fall, es fiele ihm, wie ein böser Traum, so etwas ein,
„so würde er sich dennoch enthalten, die Nation in Ver-
„suchung zu führen.“

Und fragt man den groſsen, vom Herrn von Hal-
ler
so hart angeklagten, Montesquieu, wie denn seine
vertheilten Gewalten zusammen wirken sollen: so antwor-
tet er in dem berühmten Capitel von der englischen
Verfassung *), Ces trois puissances devroient former un

*) Esprit des loix, liv. XI., chap. VI., gegen das Ende.
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[13/0048] ruhigen können, (worüber Herr von Haller klagt,) son- dern der noch viel weiter reichenden Unbegreiflichkeit, wie man, mit und ohne Logik, eine Metaphysik Jahrtausende lang hat suchen können, ohne auch nur den ersten, einzig nothwendigen Schritt zu thun, durch welchen man sich ihr hätte nähern können. Indessen findet sich doch ein sehr wichtiger Unter- schied zwischen dem Begriffe des Staats, und den me- taphysischen Begriffen. Der Staat ist ein unendlich wich- tiger praktischer Gegenstand; er ist von den gröſsten, rechtschaffensten, würdigsten und klügsten Männern nicht bloſs besprochen, sondern auch behandelt worden; und zwar bey den verschiedensten Verfassungen, in ruhigen sowohl als in unruhigen Zeiten. Die Ansichten dieser Männer waren freylich höchst verschieden; aber wie un- zulänglich auch ihre Theorieen im Allgemeinen seyn mochten, in der Praxis konnten sie nicht dasjenige, wor- auf die ganze Möglichkeit des Staats überhaupt beruht, verfehlen; sie müssen es im Einzelnen erkannt haben, wenn sie es auch nicht mit wissenschaftlicher Genauig- keit ausgesprochen haben. Fragt man den gemeinen, verständigen Bürger, warum er nicht den Wahnwitz des Caligula, nicht die Grau- samkeit des Nero, — und überhaupt keinen orientali- schen Despotismus fürchte; so wird er antworten: „das „kommt bey uns nicht vor! Es ist nicht Sitte. Es fällt „dem Fürsten nicht ein; oder setzen wir den äuſsersten „Fall, es fiele ihm, wie ein böser Traum, so etwas ein, „so würde er sich dennoch enthalten, die Nation in Ver- „suchung zu führen.“ Und fragt man den groſsen, vom Herrn von Hal- ler so hart angeklagten, Montesquieu, wie denn seine vertheilten Gewalten zusammen wirken sollen: so antwor- tet er in dem berühmten Capitel von der englischen Verfassung *), Ces trois puissances devroient former un *) Esprit des loix, liv. XI., chap. VI., gegen das Ende.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/48>, abgerufen am 18.04.2024.