Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

sen wird, eben so zeigen sich manche psychologische
Gesetze wirklich deutlicher in den grossen Umrissen der
Geschichte als bey dem einzelnen Menschen; und manche
irrige Vorstellungen, deren Widerlegung nicht leicht ist,
so lange sie den Einzelnen treffen, entblössen sich von
selbst, wenn sie auf ein grösseres Ganzes angewendet
werden. So ist z. B. das Gleichgewicht von Eu-
ropa
ein längst bekannter Gegenstand, obgleich die Un-
tersuchung über das Gleichgewicht der Vorstellun-
gen in uns
, manchem neu und fremd klingen mag.
Auch hat, meines Wissens, noch niemand daran gedacht,
einer Familie, oder gar einem Staate, die transscen-
dentale Freyheit
beyzulegen; während dieser Irrthum
in Ansehung des einzelnen Menschen sich unter den
Philosophen des Zeitalters in Deutschland allgemein ver-
breitet hat. -- Wir werden daher den einzelnen Men-
schen nicht bloss vollständiger auffassen, wenn wir
ihn als einen Theil des Menschengeschlechts ins Auge
nehmen, sondern wir werden ihn auch leichter erken-
nen, wenn wir zuerst sein vergrössertes Bild im Staate
beschauen.

Wem wird hier nicht Platons Republik einfallen?
Bekanntlich ist dies Werk eigentlich keine Staatslehre,
sondern eine Untersuchung über den Begriff dessen, was
Recht sey. Allein nachdem im ganzen ersten Buche,
und in einem Theile des zweyten, die Schwierigkeit, das
Recht zu bestimmen und in seiner unbedingten Würde
darzustellen, ist erwogen worden: wendet sich Platon
zum Staate wie zu einer grössern, und leichter lesbaren
Abschrift dessen, was im Original für schwache Augen
mit allzukleinen Buchstaben ausgedrückt sey.

Es ist nun auch meine Absicht, einige Grundzüge
der Politik zu benutzen, um dadurch den entsprechen-
den psychologischen Gesetzen, die im ersten Theile die-
ses Werkes entwickelt worden, mehr Deutlichkeit zu
verschaffen; weil ich keine lichtvollere Anwendung der-
selben zu finden weiss, und gleichwohl sehr viel daran

sen wird, eben so zeigen sich manche psychologische
Gesetze wirklich deutlicher in den groſsen Umrissen der
Geschichte als bey dem einzelnen Menschen; und manche
irrige Vorstellungen, deren Widerlegung nicht leicht ist,
so lange sie den Einzelnen treffen, entblöſsen sich von
selbst, wenn sie auf ein gröſseres Ganzes angewendet
werden. So ist z. B. das Gleichgewicht von Eu-
ropa
ein längst bekannter Gegenstand, obgleich die Un-
tersuchung über das Gleichgewicht der Vorstellun-
gen in uns
, manchem neu und fremd klingen mag.
Auch hat, meines Wissens, noch niemand daran gedacht,
einer Familie, oder gar einem Staate, die transscen-
dentale Freyheit
beyzulegen; während dieser Irrthum
in Ansehung des einzelnen Menschen sich unter den
Philosophen des Zeitalters in Deutschland allgemein ver-
breitet hat. — Wir werden daher den einzelnen Men-
schen nicht bloſs vollständiger auffassen, wenn wir
ihn als einen Theil des Menschengeschlechts ins Auge
nehmen, sondern wir werden ihn auch leichter erken-
nen, wenn wir zuerst sein vergröſsertes Bild im Staate
beschauen.

Wem wird hier nicht Platons Republik einfallen?
Bekanntlich ist dies Werk eigentlich keine Staatslehre,
sondern eine Untersuchung über den Begriff dessen, was
Recht sey. Allein nachdem im ganzen ersten Buche,
und in einem Theile des zweyten, die Schwierigkeit, das
Recht zu bestimmen und in seiner unbedingten Würde
darzustellen, ist erwogen worden: wendet sich Platon
zum Staate wie zu einer gröſsern, und leichter lesbaren
Abschrift dessen, was im Original für schwache Augen
mit allzukleinen Buchstaben ausgedrückt sey.

Es ist nun auch meine Absicht, einige Grundzüge
der Politik zu benutzen, um dadurch den entsprechen-
den psychologischen Gesetzen, die im ersten Theile die-
ses Werkes entwickelt worden, mehr Deutlichkeit zu
verschaffen; weil ich keine lichtvollere Anwendung der-
selben zu finden weiſs, und gleichwohl sehr viel daran

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0039" n="4"/>
sen wird, eben so zeigen sich manche psychologische<lb/>
Gesetze wirklich deutlicher in den gro&#x017F;sen Umrissen der<lb/>
Geschichte als bey dem einzelnen Menschen; und manche<lb/>
irrige Vorstellungen, deren Widerlegung nicht leicht ist,<lb/>
so lange sie den Einzelnen treffen, entblö&#x017F;sen sich von<lb/>
selbst, wenn sie auf ein grö&#x017F;seres Ganzes angewendet<lb/>
werden. So ist z. B. das <hi rendition="#g">Gleichgewicht von Eu-<lb/>
ropa</hi> ein längst bekannter Gegenstand, obgleich die Un-<lb/>
tersuchung über das <hi rendition="#g">Gleichgewicht der Vorstellun-<lb/>
gen in uns</hi>, manchem neu und fremd klingen mag.<lb/>
Auch hat, meines Wissens, noch niemand daran gedacht,<lb/>
einer Familie, oder gar einem Staate, die <hi rendition="#g">transscen-<lb/>
dentale Freyheit</hi> beyzulegen; während dieser Irrthum<lb/>
in Ansehung des einzelnen Menschen sich unter den<lb/>
Philosophen des Zeitalters in Deutschland allgemein ver-<lb/>
breitet hat. &#x2014; Wir werden daher den einzelnen Men-<lb/>
schen nicht blo&#x017F;s <hi rendition="#g">vollständiger</hi> auffassen, wenn wir<lb/>
ihn als einen Theil des Menschengeschlechts ins Auge<lb/>
nehmen, sondern wir werden ihn auch <hi rendition="#g">leichter</hi> erken-<lb/>
nen, wenn wir zuerst sein vergrö&#x017F;sertes Bild im Staate<lb/>
beschauen.</p><lb/>
        <p>Wem wird hier nicht <hi rendition="#g">Platons</hi> Republik einfallen?<lb/>
Bekanntlich ist dies Werk eigentlich keine Staatslehre,<lb/>
sondern eine Untersuchung über den Begriff dessen, was<lb/>
Recht sey. Allein nachdem im ganzen ersten Buche,<lb/>
und in einem Theile des zweyten, die Schwierigkeit, das<lb/>
Recht zu bestimmen und in seiner unbedingten Würde<lb/>
darzustellen, ist erwogen worden: wendet sich <hi rendition="#g">Platon</hi><lb/>
zum Staate wie zu einer grö&#x017F;sern, und leichter lesbaren<lb/>
Abschrift dessen, was im Original für schwache Augen<lb/>
mit allzukleinen Buchstaben ausgedrückt sey.</p><lb/>
        <p>Es ist nun auch meine Absicht, einige Grundzüge<lb/>
der Politik zu benutzen, um dadurch den entsprechen-<lb/>
den psychologischen Gesetzen, die im ersten Theile die-<lb/>
ses Werkes entwickelt worden, mehr Deutlichkeit zu<lb/>
verschaffen; weil ich keine lichtvollere Anwendung der-<lb/>
selben zu finden wei&#x017F;s, und gleichwohl sehr viel daran<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0039] sen wird, eben so zeigen sich manche psychologische Gesetze wirklich deutlicher in den groſsen Umrissen der Geschichte als bey dem einzelnen Menschen; und manche irrige Vorstellungen, deren Widerlegung nicht leicht ist, so lange sie den Einzelnen treffen, entblöſsen sich von selbst, wenn sie auf ein gröſseres Ganzes angewendet werden. So ist z. B. das Gleichgewicht von Eu- ropa ein längst bekannter Gegenstand, obgleich die Un- tersuchung über das Gleichgewicht der Vorstellun- gen in uns, manchem neu und fremd klingen mag. Auch hat, meines Wissens, noch niemand daran gedacht, einer Familie, oder gar einem Staate, die transscen- dentale Freyheit beyzulegen; während dieser Irrthum in Ansehung des einzelnen Menschen sich unter den Philosophen des Zeitalters in Deutschland allgemein ver- breitet hat. — Wir werden daher den einzelnen Men- schen nicht bloſs vollständiger auffassen, wenn wir ihn als einen Theil des Menschengeschlechts ins Auge nehmen, sondern wir werden ihn auch leichter erken- nen, wenn wir zuerst sein vergröſsertes Bild im Staate beschauen. Wem wird hier nicht Platons Republik einfallen? Bekanntlich ist dies Werk eigentlich keine Staatslehre, sondern eine Untersuchung über den Begriff dessen, was Recht sey. Allein nachdem im ganzen ersten Buche, und in einem Theile des zweyten, die Schwierigkeit, das Recht zu bestimmen und in seiner unbedingten Würde darzustellen, ist erwogen worden: wendet sich Platon zum Staate wie zu einer gröſsern, und leichter lesbaren Abschrift dessen, was im Original für schwache Augen mit allzukleinen Buchstaben ausgedrückt sey. Es ist nun auch meine Absicht, einige Grundzüge der Politik zu benutzen, um dadurch den entsprechen- den psychologischen Gesetzen, die im ersten Theile die- ses Werkes entwickelt worden, mehr Deutlichkeit zu verschaffen; weil ich keine lichtvollere Anwendung der- selben zu finden weiſs, und gleichwohl sehr viel daran

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/39
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/39>, abgerufen am 20.04.2024.