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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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wickelung der psychologischen Erfahrungen durch
keinen wissenschaftlichen Vortrag auf einmal kann
dargestellt werden; sondern dass man sich bald
unbequeme Trennungen, bald auch ein Hinüber-
greifen aus einem Gegenstande in den andern
muss gefallen lassen; wobey freylich bald die
Sache, bald die logische Ordnung scheinen kann,
verletzt zu werden. So habe ich es nicht ver-
meiden können, die Lehre von den Begierden
gleich Anfangs zwar zu berühren, aber sehr viel
weiter nach hinten erst fortzusetzen; und dage-
gen von den Gefühlen ausführlich schon in den
ersten Paragraphen zu handeln. Denn jene muss-
ten vorzugsweise in ihrem Gegensatze gegen die
sogenannte praktische Vernunft betrachtet wer-
den; hingegen bey den Gefühlen kam es haupt-
sächlich darauf an, die räthselhafte Verbindung
zwischen Gemüth und Vorstellungsvermögen zu
erklären; und diese Erklärung hielt ich für ein
so dringendes Bedürfniss, dass ich, um die in-
nere Erfahrung klar genug zu vergegenwärtigen,
gleich Anfangs den ganzen Gefühlszustand des
Menschen zu schildern suchte, ohne mich darum
zu bekümmern, ob hiebey von den Gefühlen des
höher gebildeten Menschen, oder von den nie-
dern gesprochen werde, die eigentlich allein in
diesen Vordergrund gehören. Bey solchen Li-
cenzen wird natürlich auf die Gefälligkeit des
Lesers etwas gerechnet; der, wenn er die Sache
aus andern Gesichtspuncten betrachten, z. B. den
Zusammenhang der Begierden mit den Gefüh-
len genauer verfolgen will, sich alsdann die im
Vortrage getrennten Theile nach dieser seiner
Absicht näher zusammenrücken muss. Das Haupt-

wickelung der psychologischen Erfahrungen durch
keinen wissenschaftlichen Vortrag auf einmal kann
dargestellt werden; sondern daſs man sich bald
unbequeme Trennungen, bald auch ein Hinüber-
greifen aus einem Gegenstande in den andern
muſs gefallen lassen; wobey freylich bald die
Sache, bald die logische Ordnung scheinen kann,
verletzt zu werden. So habe ich es nicht ver-
meiden können, die Lehre von den Begierden
gleich Anfangs zwar zu berühren, aber sehr viel
weiter nach hinten erst fortzusetzen; und dage-
gen von den Gefühlen ausführlich schon in den
ersten Paragraphen zu handeln. Denn jene muſs-
ten vorzugsweise in ihrem Gegensatze gegen die
sogenannte praktische Vernunft betrachtet wer-
den; hingegen bey den Gefühlen kam es haupt-
sächlich darauf an, die räthselhafte Verbindung
zwischen Gemüth und Vorstellungsvermögen zu
erklären; und diese Erklärung hielt ich für ein
so dringendes Bedürfniſs, daſs ich, um die in-
nere Erfahrung klar genug zu vergegenwärtigen,
gleich Anfangs den ganzen Gefühlszustand des
Menschen zu schildern suchte, ohne mich darum
zu bekümmern, ob hiebey von den Gefühlen des
höher gebildeten Menschen, oder von den nie-
dern gesprochen werde, die eigentlich allein in
diesen Vordergrund gehören. Bey solchen Li-
cenzen wird natürlich auf die Gefälligkeit des
Lesers etwas gerechnet; der, wenn er die Sache
aus andern Gesichtspuncten betrachten, z. B. den
Zusammenhang der Begierden mit den Gefüh-
len genauer verfolgen will, sich alsdann die im
Vortrage getrennten Theile nach dieser seiner
Absicht näher zusammenrücken muſs. Das Haupt-

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[XXII/0029] wickelung der psychologischen Erfahrungen durch keinen wissenschaftlichen Vortrag auf einmal kann dargestellt werden; sondern daſs man sich bald unbequeme Trennungen, bald auch ein Hinüber- greifen aus einem Gegenstande in den andern muſs gefallen lassen; wobey freylich bald die Sache, bald die logische Ordnung scheinen kann, verletzt zu werden. So habe ich es nicht ver- meiden können, die Lehre von den Begierden gleich Anfangs zwar zu berühren, aber sehr viel weiter nach hinten erst fortzusetzen; und dage- gen von den Gefühlen ausführlich schon in den ersten Paragraphen zu handeln. Denn jene muſs- ten vorzugsweise in ihrem Gegensatze gegen die sogenannte praktische Vernunft betrachtet wer- den; hingegen bey den Gefühlen kam es haupt- sächlich darauf an, die räthselhafte Verbindung zwischen Gemüth und Vorstellungsvermögen zu erklären; und diese Erklärung hielt ich für ein so dringendes Bedürfniſs, daſs ich, um die in- nere Erfahrung klar genug zu vergegenwärtigen, gleich Anfangs den ganzen Gefühlszustand des Menschen zu schildern suchte, ohne mich darum zu bekümmern, ob hiebey von den Gefühlen des höher gebildeten Menschen, oder von den nie- dern gesprochen werde, die eigentlich allein in diesen Vordergrund gehören. Bey solchen Li- cenzen wird natürlich auf die Gefälligkeit des Lesers etwas gerechnet; der, wenn er die Sache aus andern Gesichtspuncten betrachten, z. B. den Zusammenhang der Begierden mit den Gefüh- len genauer verfolgen will, sich alsdann die im Vortrage getrennten Theile nach dieser seiner Absicht näher zusammenrücken muſs. Das Haupt-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. XXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/29>, abgerufen am 23.04.2024.