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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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eine Zeit verfliessen kann, in welcher wir an
einen gewissen Gegenstand gar nicht denken
,
ohne dass doch darum uns die Kenntniss desselben ver-
loren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wie-
der hervortritt. -- Wer nun aber alle diese Beziehungen
des Gedächtnisses, welche nur im Allgemeinen bekannt
sind, dadurch gehörig zu bestimmen und vollständig zu
machen wüsste, dass er auch noch die Bedingungen,
sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als
auch endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne
welche Bedingungen die Reproduction ausbleibt,) angäbe
und bewiese: der hätte die bekannten Facta ergänzt,
indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des
Bewusstseyns, wohin sie sich zurückziehn, und von wo
sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und
wer diese Kenntniss sich auf solchem Wege verschafft
hätte, dass von dem Gedächtniss, als einem Inbegriff be-
kannter Thatsachen, auf dessen nothwendige Voraus-
setzungen wäre geschlossen worden: der würde dadurch
diese Thatsachen zu psychologischen Principien gestem-
pelt haben. Wer aber vom Gedächtniss nur in Namen-
erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen
redet, die Jeden die Erfahrung längst gelehrt hat, der
misbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine
Theorie des Gedächtnisses zuschreibt.

Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die
des Selbstbewusstseyns auf die Individualität eines Jeden.
Daher hat man den Gedanken fassen können, das Ich
als Absolutum aufzustellen; ein sehr grosser Fehler, der
aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Re-
flexionen bedarf. Und die Geschichte der neuern Philo-
sophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexio-
nen verfehlt werden können.

Nichts desto weniger sind Fichte's ältere Werke
voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen
des Selbstbewusstseyns aufzufinden; und ohne allen Zwei-
fel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen,

eine Zeit verflieſsen kann, in welcher wir an
einen gewissen Gegenstand gar nicht denken
,
ohne daſs doch darum uns die Kenntniſs desselben ver-
loren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wie-
der hervortritt. — Wer nun aber alle diese Beziehungen
des Gedächtnisses, welche nur im Allgemeinen bekannt
sind, dadurch gehörig zu bestimmen und vollständig zu
machen wüſste, daſs er auch noch die Bedingungen,
sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als
auch endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne
welche Bedingungen die Reproduction ausbleibt,) angäbe
und bewiese: der hätte die bekannten Facta ergänzt,
indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des
Bewuſstseyns, wohin sie sich zurückziehn, und von wo
sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und
wer diese Kenntniſs sich auf solchem Wege verschafft
hätte, daſs von dem Gedächtniſs, als einem Inbegriff be-
kannter Thatsachen, auf dessen nothwendige Voraus-
setzungen wäre geschlossen worden: der würde dadurch
diese Thatsachen zu psychologischen Principien gestem-
pelt haben. Wer aber vom Gedächtniſs nur in Namen-
erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen
redet, die Jeden die Erfahrung längst gelehrt hat, der
misbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine
Theorie des Gedächtnisses zuschreibt.

Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die
des Selbstbewuſstseyns auf die Individualität eines Jeden.
Daher hat man den Gedanken fassen können, das Ich
als Absolutum aufzustellen; ein sehr groſser Fehler, der
aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Re-
flexionen bedarf. Und die Geschichte der neuern Philo-
sophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexio-
nen verfehlt werden können.

Nichts desto weniger sind Fichte’s ältere Werke
voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen
des Selbstbewuſstseyns aufzufinden; und ohne allen Zwei-
fel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen,

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[30/0050] eine Zeit verflieſsen kann, in welcher wir an einen gewissen Gegenstand gar nicht denken, ohne daſs doch darum uns die Kenntniſs desselben ver- loren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wie- der hervortritt. — Wer nun aber alle diese Beziehungen des Gedächtnisses, welche nur im Allgemeinen bekannt sind, dadurch gehörig zu bestimmen und vollständig zu machen wüſste, daſs er auch noch die Bedingungen, sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als auch endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne welche Bedingungen die Reproduction ausbleibt,) angäbe und bewiese: der hätte die bekannten Facta ergänzt, indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des Bewuſstseyns, wohin sie sich zurückziehn, und von wo sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und wer diese Kenntniſs sich auf solchem Wege verschafft hätte, daſs von dem Gedächtniſs, als einem Inbegriff be- kannter Thatsachen, auf dessen nothwendige Voraus- setzungen wäre geschlossen worden: der würde dadurch diese Thatsachen zu psychologischen Principien gestem- pelt haben. Wer aber vom Gedächtniſs nur in Namen- erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen redet, die Jeden die Erfahrung längst gelehrt hat, der misbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine Theorie des Gedächtnisses zuschreibt. Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die des Selbstbewuſstseyns auf die Individualität eines Jeden. Daher hat man den Gedanken fassen können, das Ich als Absolutum aufzustellen; ein sehr groſser Fehler, der aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Re- flexionen bedarf. Und die Geschichte der neuern Philo- sophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexio- nen verfehlt werden können. Nichts desto weniger sind Fichte’s ältere Werke voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen des Selbstbewuſstseyns aufzufinden; und ohne allen Zwei- fel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/50>, abgerufen am 28.03.2024.