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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich gar bald ver-
dunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schau-
spiele sich zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbst-
beobachtung selber, von der eine neue Gedankenreihe
anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue zum
Object einer wiederhohlten Reflexion sich darbietet.

Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abän-
dern, wenn mitten im Geschäfft, in der Leidenschaft,
während des Sprechens mit Andern, wir uns selber be-
lauschen. Das Geschäfft geräth dadurch ins Stocken, die
Leidenschaft mässigt sich, und macht gar oft einem Af-
fecte Platz, der aus dem Urtheil über uns selbst ent-
springt. Das Zuhören bey der eignen Rede hemmt ihr
rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben, den
Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander
legen; den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der
Stimme anklingender zu machen.

Will man verhüten, dass nicht der Zuschauer in die
Handlung eingreife? Will man sich absichtlich gehen
lassen; um rein aufzufassen, was von selbst innerlich ge-
schehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen war,
sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zu-
schauer sich und sein eignes Warten beschauen. Eine
Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und
streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick
den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahr-
zunehmen: dies könnte als eine der stärksten Selbstpei-
nigungen denen empfohlen werden, die darin ein Ver-
dienst suchen.

§. 3.

Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer wäh-
rend seines ganzen Lebens, und eben dadurch gewinnt
er seine eigene Lebensgeschichte. Auch bringt er diese
Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntniss seiner
Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das
Subject, zu welchem diese nur die Prädicate liefern soll.
Und schon aus diesem Grunde kann die absichtliche

Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich gar bald ver-
dunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schau-
spiele sich zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbst-
beobachtung selber, von der eine neue Gedankenreihe
anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue zum
Object einer wiederhohlten Reflexion sich darbietet.

Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abän-
dern, wenn mitten im Geschäfft, in der Leidenschaft,
während des Sprechens mit Andern, wir uns selber be-
lauschen. Das Geschäfft geräth dadurch ins Stocken, die
Leidenschaft mäſsigt sich, und macht gar oft einem Af-
fecte Platz, der aus dem Urtheil über uns selbst ent-
springt. Das Zuhören bey der eignen Rede hemmt ihr
rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben, den
Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander
legen; den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der
Stimme anklingender zu machen.

Will man verhüten, daſs nicht der Zuschauer in die
Handlung eingreife? Will man sich absichtlich gehen
lassen; um rein aufzufassen, was von selbst innerlich ge-
schehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen war,
sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zu-
schauer sich und sein eignes Warten beschauen. Eine
Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und
streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick
den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahr-
zunehmen: dies könnte als eine der stärksten Selbstpei-
nigungen denen empfohlen werden, die darin ein Ver-
dienst suchen.

§. 3.

Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer wäh-
rend seines ganzen Lebens, und eben dadurch gewinnt
er seine eigene Lebensgeschichte. Auch bringt er diese
Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntniſs seiner
Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das
Subject, zu welchem diese nur die Prädicate liefern soll.
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[11/0031] Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich gar bald ver- dunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schau- spiele sich zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbst- beobachtung selber, von der eine neue Gedankenreihe anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue zum Object einer wiederhohlten Reflexion sich darbietet. Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abän- dern, wenn mitten im Geschäfft, in der Leidenschaft, während des Sprechens mit Andern, wir uns selber be- lauschen. Das Geschäfft geräth dadurch ins Stocken, die Leidenschaft mäſsigt sich, und macht gar oft einem Af- fecte Platz, der aus dem Urtheil über uns selbst ent- springt. Das Zuhören bey der eignen Rede hemmt ihr rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben, den Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander legen; den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der Stimme anklingender zu machen. Will man verhüten, daſs nicht der Zuschauer in die Handlung eingreife? Will man sich absichtlich gehen lassen; um rein aufzufassen, was von selbst innerlich ge- schehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen war, sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zu- schauer sich und sein eignes Warten beschauen. Eine Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahr- zunehmen: dies könnte als eine der stärksten Selbstpei- nigungen denen empfohlen werden, die darin ein Ver- dienst suchen. §. 3. Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer wäh- rend seines ganzen Lebens, und eben dadurch gewinnt er seine eigene Lebensgeschichte. Auch bringt er diese Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntniſs seiner Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das Subject, zu welchem diese nur die Prädicate liefern soll. Und schon aus diesem Grunde kann die absichtliche

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/31>, abgerufen am 28.03.2024.