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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 9. Einleitung.
sicht und Behandlungsweise vorzüglich zwei Richtungen ergeben, de-
ren jede wieder ihre besonderen Nüancen darbietet.

Die Eine Hauptrichtung ist die naturrechtliche, ausgehend von
der Thatsache oder Fiction eines der menschlichen Natur eingepflanz-
ten oder vorgeschriebenen Vernunftgesetzes, dem sich kein menschli-
ches Wesen und menschlicher Verein entziehen dürfe. Diese Rich-
tung beginnt schon vor Groot; 1 sie war der nothwendige Gegen-
satz, um die Herrschaft der rein materiellen politischen Interessen
zu stürzen; aber auch in ihr selbst fehlte es nicht an Gegensätzen.
Auf der einen Seite gab es Manche, welche ein durch sich selbst
verbindliches positives, namentlich internationales Recht gänzlich
leugneten, und das vermeintlich allein wahre natürliche Recht ent-
weder auf die substanzielle Macht der Gewalt oder eines göttlichen
Auftrags der Herrschaft über Andere, wodurch dann erst das mensch-
liche Recht selbst geschaffen werde, gründeten, wie z. B. der Brite
Hobbes, geb. 1588 + 1679, der die Gewalt vergötterte, 2 in Frank-
reich noch in neuerer Zeit, wenn auch in anderer Weise Herr von
Bonald; 3 oder auf die ethischen Regeln der Gerechtigkeit für alle
Menschen, wie Samuel v. Pufendorf, geb. 1631 + 1694, in
seinem ius naturae et gentium; 4 sodann Christian Thomasius
(1655--1728) in mehreren Schriften. 5

Je mehr diese Lehren aber gegen die Wirklichkeit anstießen oder
der Willkühr der Macht das Feld ebneten, desto mehr fanden sie
Widerstand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte sich
lieber auf dem bequemeren und praktischen Boden der Grootischen
Anschauung, legte auch dem Positiven eine Verbindlichkeit bei und
betrachtete das s. g. natürliche Recht der Einzelnen und der Völ-

1 Dahin gehört: Jo Oldendorp + 1557 in s. Isagoge iur. natural. Col.
1539. Nic. Henning
zu Copenhagen, in s. method. apod de L. nat. Vi-
temb.
1562.
2 Sein am meisten hierher gehöriges Werk sind die Elementa philosophica
de cive.
1642.
3 Zuerst in s. theorie du pouvoir politique et religieux. Constance 1796.
Dann in s. legislation primitive, u. s. f.
4 Zuerst erschienen 1672. Voraus gingen die Elementa iurispr. universa-
lis.
1660. Nachher folgte de officiis hominis et civis. 1673. Vgl. dar-
über und über seine Gegner Struv, bibl. iur. imp. I, V.
5 Besonders in den Fundamenta iur. naturae et gentium. Hal. 1705.
1708. Vgl. Struv. I, VI.
2*

§. 9. Einleitung.
ſicht und Behandlungsweiſe vorzüglich zwei Richtungen ergeben, de-
ren jede wieder ihre beſonderen Nüancen darbietet.

Die Eine Hauptrichtung iſt die naturrechtliche, ausgehend von
der Thatſache oder Fiction eines der menſchlichen Natur eingepflanz-
ten oder vorgeſchriebenen Vernunftgeſetzes, dem ſich kein menſchli-
ches Weſen und menſchlicher Verein entziehen dürfe. Dieſe Rich-
tung beginnt ſchon vor Groot; 1 ſie war der nothwendige Gegen-
ſatz, um die Herrſchaft der rein materiellen politiſchen Intereſſen
zu ſtürzen; aber auch in ihr ſelbſt fehlte es nicht an Gegenſätzen.
Auf der einen Seite gab es Manche, welche ein durch ſich ſelbſt
verbindliches poſitives, namentlich internationales Recht gänzlich
leugneten, und das vermeintlich allein wahre natürliche Recht ent-
weder auf die ſubſtanzielle Macht der Gewalt oder eines göttlichen
Auftrags der Herrſchaft über Andere, wodurch dann erſt das menſch-
liche Recht ſelbſt geſchaffen werde, gründeten, wie z. B. der Brite
Hobbes, geb. 1588 † 1679, der die Gewalt vergötterte, 2 in Frank-
reich noch in neuerer Zeit, wenn auch in anderer Weiſe Herr von
Bonald; 3 oder auf die ethiſchen Regeln der Gerechtigkeit für alle
Menſchen, wie Samuel v. Pufendorf, geb. 1631 † 1694, in
ſeinem ius naturae et gentium; 4 ſodann Chriſtian Thomaſius
(1655—1728) in mehreren Schriften. 5

Je mehr dieſe Lehren aber gegen die Wirklichkeit anſtießen oder
der Willkühr der Macht das Feld ebneten, deſto mehr fanden ſie
Widerſtand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte ſich
lieber auf dem bequemeren und praktiſchen Boden der Grootiſchen
Anſchauung, legte auch dem Poſitiven eine Verbindlichkeit bei und
betrachtete das ſ. g. natürliche Recht der Einzelnen und der Völ-

1 Dahin gehört: Jo Oldendorp † 1557 in ſ. Isagoge iur. natural. Col.
1539. Nic. Henning
zu Copenhagen, in ſ. method. apod de L. nat. Vi-
temb.
1562.
2 Sein am meiſten hierher gehöriges Werk ſind die Elementa philosophica
de cive.
1642.
3 Zuerſt in ſ. théorie du pouvoir politique et religieux. Constance 1796.
Dann in ſ. legislation primitive, u. ſ. f.
4 Zuerſt erſchienen 1672. Voraus gingen die Elementa iurispr. universa-
lis.
1660. Nachher folgte de officiis hominis et civis. 1673. Vgl. dar-
über und über ſeine Gegner Struv, bibl. iur. imp. I, V.
5 Beſonders in den Fundamenta iur. naturae et gentium. Hal. 1705.
1708. Vgl. Struv. I, VI.
2*
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[19/0043] §. 9. Einleitung. ſicht und Behandlungsweiſe vorzüglich zwei Richtungen ergeben, de- ren jede wieder ihre beſonderen Nüancen darbietet. Die Eine Hauptrichtung iſt die naturrechtliche, ausgehend von der Thatſache oder Fiction eines der menſchlichen Natur eingepflanz- ten oder vorgeſchriebenen Vernunftgeſetzes, dem ſich kein menſchli- ches Weſen und menſchlicher Verein entziehen dürfe. Dieſe Rich- tung beginnt ſchon vor Groot; 1 ſie war der nothwendige Gegen- ſatz, um die Herrſchaft der rein materiellen politiſchen Intereſſen zu ſtürzen; aber auch in ihr ſelbſt fehlte es nicht an Gegenſätzen. Auf der einen Seite gab es Manche, welche ein durch ſich ſelbſt verbindliches poſitives, namentlich internationales Recht gänzlich leugneten, und das vermeintlich allein wahre natürliche Recht ent- weder auf die ſubſtanzielle Macht der Gewalt oder eines göttlichen Auftrags der Herrſchaft über Andere, wodurch dann erſt das menſch- liche Recht ſelbſt geſchaffen werde, gründeten, wie z. B. der Brite Hobbes, geb. 1588 † 1679, der die Gewalt vergötterte, 2 in Frank- reich noch in neuerer Zeit, wenn auch in anderer Weiſe Herr von Bonald; 3 oder auf die ethiſchen Regeln der Gerechtigkeit für alle Menſchen, wie Samuel v. Pufendorf, geb. 1631 † 1694, in ſeinem ius naturae et gentium; 4 ſodann Chriſtian Thomaſius (1655—1728) in mehreren Schriften. 5 Je mehr dieſe Lehren aber gegen die Wirklichkeit anſtießen oder der Willkühr der Macht das Feld ebneten, deſto mehr fanden ſie Widerſtand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte ſich lieber auf dem bequemeren und praktiſchen Boden der Grootiſchen Anſchauung, legte auch dem Poſitiven eine Verbindlichkeit bei und betrachtete das ſ. g. natürliche Recht der Einzelnen und der Völ- 1 Dahin gehört: Jo Oldendorp † 1557 in ſ. Isagoge iur. natural. Col. 1539. Nic. Henning zu Copenhagen, in ſ. method. apod de L. nat. Vi- temb. 1562. 2 Sein am meiſten hierher gehöriges Werk ſind die Elementa philosophica de cive. 1642. 3 Zuerſt in ſ. théorie du pouvoir politique et religieux. Constance 1796. Dann in ſ. legislation primitive, u. ſ. f. 4 Zuerſt erſchienen 1672. Voraus gingen die Elementa iurispr. universa- lis. 1660. Nachher folgte de officiis hominis et civis. 1673. Vgl. dar- über und über ſeine Gegner Struv, bibl. iur. imp. I, V. 5 Beſonders in den Fundamenta iur. naturae et gentium. Hal. 1705. 1708. Vgl. Struv. I, VI. 2*

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/43>, abgerufen am 25.04.2024.