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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Einleitung. §. 4.
nem Schutz kann indessen ein gewisses Gleichgewicht der Staaten
und Nationen unter einander wesentlich beitragen. Dieses Gleich-
gewicht besteht im Allgemeinen darin, daß jeder Einzelstaat, indem
er sich zu einer Verletzung des Völkerrechts an Anderen entschließt,
eine gleichkräftige Reaction des Bedrohten oder selbst der übrigen
zu erwarten hat, welche an demselben völkerrechtlichen System Theil
nehmen. Praktisch ist es daher entweder als ein materielles Gleich-
gewicht der einzelnen Staaten gegen einander denkbar, welches in-
dessen geschichtlich nur selten existirt hat und wenn ja zuweilen vor-
handen, dennoch einer steten Veränderung unterworfen ist, da die
Nationalkraft sich nicht in allen Staaten gleichmäßig entwickelt,
fortschreitet und sinkt; oder es ist ein moralisches Gleichgewicht,
nämlich eine moralische Gesammtbürgschaft, worin alle Staaten nach
dem nämlichen Recht zu einander und zum gemeinsamen Schutz
desselben gegen die Uebermacht Einzelner treten, sich wenigstens mo-
ralisch zur Mitabwehr derselben verpflichtet halten. Natürlich darf
aber auch hier die erforderliche physische und moralische Kraft der
Uebrigen zur Abwehr des Mächtigsten nicht fehlen, sonst wird die-
sem gegenüber das Völkerrecht ein leerer Schall. An und für sich
aber ist die Idee eines politischen Gleichgewichts der Staaten durch-
aus keine Chimäre, wofür sie Manche erklärt haben, sondern eine
höchst natürliche für Staaten, die sich zu demselben Recht beken-
nen wollen; nur die Anwendung, welche davon zu manchen Zei-
ten gemacht ist, und die Folgerungen, die darauf gebaut wurden,
sind verwerflich.

Die Schriften über das Europäische Gleichgewicht finden sich nachgewiesen
in v. Ompteda Lit. II, 484 ff., v. Kamptz n. Lit. 97. 99 und in Klüber
dr. des gens §. 42. Ueber den Einfluß der Idee des Gleichgewichts auf das
Völkerrecht vergl. den folgenden §.
Inhalt des Völkerrechts und Verhältniß zur Politik.

4. Nicht bloß der einzelne Mensch, auch die Nationen sündi-
gen an sich und unter einander. Die Sühne, die Emporhebung
aus dem Versinken ist der Krieg. Ein goldnes Zeitalter ohne ihn,
ohne seine Nothwendigkeit, wäre ein Zustand der Sündlosigkeit der
Völker. Gewiß erzeugt auch der Krieg geistige Bewegung, und
stählt Kräfte, welche im Frieden schlafen oder versumpfen und ohne

Einleitung. §. 4.
nem Schutz kann indeſſen ein gewiſſes Gleichgewicht der Staaten
und Nationen unter einander weſentlich beitragen. Dieſes Gleich-
gewicht beſteht im Allgemeinen darin, daß jeder Einzelſtaat, indem
er ſich zu einer Verletzung des Völkerrechts an Anderen entſchließt,
eine gleichkräftige Reaction des Bedrohten oder ſelbſt der übrigen
zu erwarten hat, welche an demſelben völkerrechtlichen Syſtem Theil
nehmen. Praktiſch iſt es daher entweder als ein materielles Gleich-
gewicht der einzelnen Staaten gegen einander denkbar, welches in-
deſſen geſchichtlich nur ſelten exiſtirt hat und wenn ja zuweilen vor-
handen, dennoch einer ſteten Veränderung unterworfen iſt, da die
Nationalkraft ſich nicht in allen Staaten gleichmäßig entwickelt,
fortſchreitet und ſinkt; oder es iſt ein moraliſches Gleichgewicht,
nämlich eine moraliſche Geſammtbürgſchaft, worin alle Staaten nach
dem nämlichen Recht zu einander und zum gemeinſamen Schutz
deſſelben gegen die Uebermacht Einzelner treten, ſich wenigſtens mo-
raliſch zur Mitabwehr derſelben verpflichtet halten. Natürlich darf
aber auch hier die erforderliche phyſiſche und moraliſche Kraft der
Uebrigen zur Abwehr des Mächtigſten nicht fehlen, ſonſt wird die-
ſem gegenüber das Völkerrecht ein leerer Schall. An und für ſich
aber iſt die Idee eines politiſchen Gleichgewichts der Staaten durch-
aus keine Chimäre, wofür ſie Manche erklärt haben, ſondern eine
höchſt natürliche für Staaten, die ſich zu demſelben Recht beken-
nen wollen; nur die Anwendung, welche davon zu manchen Zei-
ten gemacht iſt, und die Folgerungen, die darauf gebaut wurden,
ſind verwerflich.

Die Schriften über das Europäiſche Gleichgewicht finden ſich nachgewieſen
in v. Ompteda Lit. II, 484 ff., v. Kamptz n. Lit. 97. 99 und in Klüber
dr. des gens §. 42. Ueber den Einfluß der Idee des Gleichgewichts auf das
Völkerrecht vergl. den folgenden §.
Inhalt des Völkerrechts und Verhältniß zur Politik.

4. Nicht bloß der einzelne Menſch, auch die Nationen ſündi-
gen an ſich und unter einander. Die Sühne, die Emporhebung
aus dem Verſinken iſt der Krieg. Ein goldnes Zeitalter ohne ihn,
ohne ſeine Nothwendigkeit, wäre ein Zuſtand der Sündloſigkeit der
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[4/0028] Einleitung. §. 4. nem Schutz kann indeſſen ein gewiſſes Gleichgewicht der Staaten und Nationen unter einander weſentlich beitragen. Dieſes Gleich- gewicht beſteht im Allgemeinen darin, daß jeder Einzelſtaat, indem er ſich zu einer Verletzung des Völkerrechts an Anderen entſchließt, eine gleichkräftige Reaction des Bedrohten oder ſelbſt der übrigen zu erwarten hat, welche an demſelben völkerrechtlichen Syſtem Theil nehmen. Praktiſch iſt es daher entweder als ein materielles Gleich- gewicht der einzelnen Staaten gegen einander denkbar, welches in- deſſen geſchichtlich nur ſelten exiſtirt hat und wenn ja zuweilen vor- handen, dennoch einer ſteten Veränderung unterworfen iſt, da die Nationalkraft ſich nicht in allen Staaten gleichmäßig entwickelt, fortſchreitet und ſinkt; oder es iſt ein moraliſches Gleichgewicht, nämlich eine moraliſche Geſammtbürgſchaft, worin alle Staaten nach dem nämlichen Recht zu einander und zum gemeinſamen Schutz deſſelben gegen die Uebermacht Einzelner treten, ſich wenigſtens mo- raliſch zur Mitabwehr derſelben verpflichtet halten. Natürlich darf aber auch hier die erforderliche phyſiſche und moraliſche Kraft der Uebrigen zur Abwehr des Mächtigſten nicht fehlen, ſonſt wird die- ſem gegenüber das Völkerrecht ein leerer Schall. An und für ſich aber iſt die Idee eines politiſchen Gleichgewichts der Staaten durch- aus keine Chimäre, wofür ſie Manche erklärt haben, ſondern eine höchſt natürliche für Staaten, die ſich zu demſelben Recht beken- nen wollen; nur die Anwendung, welche davon zu manchen Zei- ten gemacht iſt, und die Folgerungen, die darauf gebaut wurden, ſind verwerflich. Die Schriften über das Europäiſche Gleichgewicht finden ſich nachgewieſen in v. Ompteda Lit. II, 484 ff., v. Kamptz n. Lit. 97. 99 und in Klüber dr. des gens §. 42. Ueber den Einfluß der Idee des Gleichgewichts auf das Völkerrecht vergl. den folgenden §. Inhalt des Völkerrechts und Verhältniß zur Politik. 4. Nicht bloß der einzelne Menſch, auch die Nationen ſündi- gen an ſich und unter einander. Die Sühne, die Emporhebung aus dem Verſinken iſt der Krieg. Ein goldnes Zeitalter ohne ihn, ohne ſeine Nothwendigkeit, wäre ein Zuſtand der Sündloſigkeit der Völker. Gewiß erzeugt auch der Krieg geiſtige Bewegung, und ſtählt Kräfte, welche im Frieden ſchlafen oder verſumpfen und ohne

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/28>, abgerufen am 29.03.2024.