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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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IV. Theorie der Keimblätter.

Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigenesis-
Theorie von Wolff bestätigt und durch Meckel (1812) dessen
wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem
Lateinischen in's Deutsche übersetzt war, warfen sich in Deutsch-
land mehrere junge Naturforscher mit großem Eifer auf die ge-
nauere Untersuchung der Keimesgeschichte. Der bedeutendste und
erfolgreichste derselben war Carl Ernst Baer; sein be-
rühmtes Hauptwerk erschien 1828 unter dem Titel: "Entwickelungs-
geschichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion". Nicht allein
sind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und
vollständig beschrieben, sondern auch zahlreiche geistvolle Speku-
lationen daran geknüpft. Vorzugsweise ist zwar die Embryo-
bildung des Menschen und der Wirbelthiere genau dar-
gestellt, aber daneben auch die wesentlich verschiedene Outogenie
der niederen, wirbellosen Thiere berücksichtigt. Die zwei blatt-
förmigen Schichten, welche in der runden Keimscheibe der höheren
Wirbelthiere zuerst auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in
je zwei Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich
in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautschicht, Fleisch-
schicht, Gefäßschicht und Schleimschicht. Durch sehr verwickelte
Processe der Epigenesis entstehen daraus die späteren Organe,
und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbelthieren in
wesentlich gleicher Weise. Ganz anders verhalten sich darin die
drei Hauptgruppen der wirbellosen Thiere, unter sich wieder sehr
verschieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer
war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis Dahin hatte
man beim Menschen, wie bei allen anderen Säugethieren, für
Eier kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock
finden. Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in
diesen Bläschen, den "Graaf'schen Follikeln" eingeschlossen und
viel kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter
günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu

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IV. Theorie der Keimblätter.

Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis-
Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen
wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem
Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch-
land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge-
nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und
erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be-
rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs-
geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein
ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und
vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku-
lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo-
bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar-
geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie
der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt-
förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren
Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in
je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich
in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch-
ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte
Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe,
und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in
weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die
drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr
verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer
war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte
man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für
Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock
finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in
dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und
viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter
günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu

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[67/0083] IV. Theorie der Keimblätter. Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis- Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch- land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge- nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be- rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs- geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku- lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo- bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar- geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt- förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch- ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe, und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu 5*

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/83>, abgerufen am 28.03.2024.