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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Theorie der Epigenesis. IV.
Doktor-Dissertation unter dem Titel "Theoria generationis".
Gestützt auf eine Reihe der mühsamsten und sorgfältigsten Be-
obachtungen, wies er nach, daß die ganze herrschende Präfor-
mations- und Scatulations-Theorie falsch sei. Im bebrüteten
Hühnerei ist anfangs noch keine Spur vom späteren Vogelkörper
und seinen Theilen vorhanden; vielmehr finden wir statt dessen
oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde,
weiße Scheibe. Diese dünne "Keimscheibe" wird länglich
rund und zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten,
die Anlagen der vier wichtigsten Organ-Systeme: zuerst die
oberste, das Nervensystem, darunter die Fleischmasse (Muskel-
system), dann das Gefäßsystem (mit dem Herzen) und zuletzt der
Darmkanal. Also, sagt Wolff richtig, besteht die Keimbildung
nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, sondern in
einer Kette von Neubildungen, einer wahren "Epigenesis";
ein Theil entsteht nach dem andern, und alle erscheinen in einer
einfachen Form, welche von der später ausgebildeten ganz ver-
schieden ist; diese entsteht erst durch eine Reihe der merkwürdigsten
Umbildungen. Obgleich nun diese große Entdeckung -- eine der
wichtigsten des 18. Jahrhunderts! -- sich unmittelbar durch
Nachuntersuchung der beobachteten Thatsachen hätte bestätigen
lassen, und obgleich die darauf gegründete "Theorie der
Generation
" eigentlich gar keine Theorie, sondern eine nackte
Thatsache war, fand sie dennoch ein halbes Jahrhundert
hindurch nicht die mindeste Anerkennung. Besonders hinderlich
war die mächtige Autorität von Haller, der sie hartnäckig be-
kämpfte, mit dem Dogma: "Es giebt kein Werden! Kein Theil
im Thierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und Alle
sind zugleich erschaffen". Wolff, der nach Petersburg gehen
mußte, war schon lange todt, als die vergessenen, von ihm
beobachteten Thatsachen von Lorenz Oken in Jena (1806)
auf's Neue entdeckt wurden.

Theorie der Epigeneſis. IV.
Doktor-Diſſertation unter dem Titel „Theoria generationiſ“.
Geſtützt auf eine Reihe der mühſamſten und ſorgfältigſten Be-
obachtungen, wies er nach, daß die ganze herrſchende Präfor-
mations- und Scatulations-Theorie falſch ſei. Im bebrüteten
Hühnerei iſt anfangs noch keine Spur vom ſpäteren Vogelkörper
und ſeinen Theilen vorhanden; vielmehr finden wir ſtatt deſſen
oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde,
weiße Scheibe. Dieſe dünne „Keimſcheibe“ wird länglich
rund und zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten,
die Anlagen der vier wichtigſten Organ-Syſteme: zuerſt die
oberſte, das Nervenſyſtem, darunter die Fleiſchmaſſe (Muskel-
ſyſtem), dann das Gefäßſyſtem (mit dem Herzen) und zuletzt der
Darmkanal. Alſo, ſagt Wolff richtig, beſteht die Keimbildung
nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, ſondern in
einer Kette von Neubildungen, einer wahren „Epigeneſiſ“;
ein Theil entſteht nach dem andern, und alle erſcheinen in einer
einfachen Form, welche von der ſpäter ausgebildeten ganz ver-
ſchieden iſt; dieſe entſteht erſt durch eine Reihe der merkwürdigſten
Umbildungen. Obgleich nun dieſe große Entdeckung — eine der
wichtigſten des 18. Jahrhunderts! — ſich unmittelbar durch
Nachunterſuchung der beobachteten Thatſachen hätte beſtätigen
laſſen, und obgleich die darauf gegründete „Theorie der
Generation
“ eigentlich gar keine Theorie, ſondern eine nackte
Thatſache war, fand ſie dennoch ein halbes Jahrhundert
hindurch nicht die mindeſte Anerkennung. Beſonders hinderlich
war die mächtige Autorität von Haller, der ſie hartnäckig be-
kämpfte, mit dem Dogma: „Es giebt kein Werden! Kein Theil
im Thierkörper iſt vor dem anderen gemacht worden, und Alle
ſind zugleich erſchaffen“. Wolff, der nach Petersburg gehen
mußte, war ſchon lange todt, als die vergeſſenen, von ihm
beobachteten Thatſachen von Lorenz Oken in Jena (1806)
auf's Neue entdeckt wurden.

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[66/0082] Theorie der Epigeneſis. IV. Doktor-Diſſertation unter dem Titel „Theoria generationiſ“. Geſtützt auf eine Reihe der mühſamſten und ſorgfältigſten Be- obachtungen, wies er nach, daß die ganze herrſchende Präfor- mations- und Scatulations-Theorie falſch ſei. Im bebrüteten Hühnerei iſt anfangs noch keine Spur vom ſpäteren Vogelkörper und ſeinen Theilen vorhanden; vielmehr finden wir ſtatt deſſen oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Dieſe dünne „Keimſcheibe“ wird länglich rund und zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten, die Anlagen der vier wichtigſten Organ-Syſteme: zuerſt die oberſte, das Nervenſyſtem, darunter die Fleiſchmaſſe (Muskel- ſyſtem), dann das Gefäßſyſtem (mit dem Herzen) und zuletzt der Darmkanal. Alſo, ſagt Wolff richtig, beſteht die Keimbildung nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, ſondern in einer Kette von Neubildungen, einer wahren „Epigeneſiſ“; ein Theil entſteht nach dem andern, und alle erſcheinen in einer einfachen Form, welche von der ſpäter ausgebildeten ganz ver- ſchieden iſt; dieſe entſteht erſt durch eine Reihe der merkwürdigſten Umbildungen. Obgleich nun dieſe große Entdeckung — eine der wichtigſten des 18. Jahrhunderts! — ſich unmittelbar durch Nachunterſuchung der beobachteten Thatſachen hätte beſtätigen laſſen, und obgleich die darauf gegründete „Theorie der Generation“ eigentlich gar keine Theorie, ſondern eine nackte Thatſache war, fand ſie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeſte Anerkennung. Beſonders hinderlich war die mächtige Autorität von Haller, der ſie hartnäckig be- kämpfte, mit dem Dogma: „Es giebt kein Werden! Kein Theil im Thierkörper iſt vor dem anderen gemacht worden, und Alle ſind zugleich erſchaffen“. Wolff, der nach Petersburg gehen mußte, war ſchon lange todt, als die vergeſſenen, von ihm beobachteten Thatſachen von Lorenz Oken in Jena (1806) auf's Neue entdeckt wurden.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/82>, abgerufen am 28.03.2024.