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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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IV. Einschachtelungs-Lehre.
"Auswickelung" (Evolutio) der eingewickelten Theile (Partes
involutae)
. Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang unseres
Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am
besten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie;
oft wird sie auch "Evolutions-Theorie" genannt; allein unter
diesem Begriffe verstehen viele neuere Autoren auch die ganz
verschiedene Transformations-Theorie.

Einschachtelungs-Lehre (Scatulations-Theorie). In
engem Zusammenhange mit der Präformations-Lehre, und in
berechtigter Schlußfolge aus derselben entstand im vorigen Jahr-
hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen
lebhaft beschäftigte, die sonderbare "Einschachtelungslehre". Da
man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga-
nismus mit allen seinen Theilen vorhanden sei, mußte auch der
Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene-
ration darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier
der nächstfolgenden u. s. w., in infinitum! Darauf hin be-
rechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott
vor 6000 Jahren -- am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes --
die Keime von 200000 Millionen Menschen gleichzeitig er-
schaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva
kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch-
angesehene Philosoph Leibniz schloß sich diesen Ausführungen
an und verwerthete sie für seine Monadenlehre; und da dieser
zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft
befinden, übertrug er sie auch auf die Seele: -- "die Seelen
der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit
dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organisirter
Körper existirt".

Epigenesis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in
Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caspar Friedrich
Wolff
(-- der Sohn eines Berliner Schneiders --), seine

Haeckel, Welträthsel. 5

IV. Einſchachtelungs-Lehre.
Auswickelung(Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ
involutae)
. Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres
Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am
beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie;
oft wird ſie auch „Evolutionſ-Theorie“ genannt; allein unter
dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz
verſchiedene Tranſformationſ-Theorie.

Einſchachtelungs-Lehre (Scatulationſ-Theorie). In
engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in
berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr-
hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen
lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da
man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga-
nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der
Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene-
ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier
der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be-
rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott
vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes —
die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er-
ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva
kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch-
angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen
an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer
zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft
befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „die Seelen
der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit
dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter
Körper exiſtirt“.

Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in
Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich
Wolff
(— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine

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[65/0081] IV. Einſchachtelungs-Lehre. „Auswickelung“ (Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ involutae). Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird ſie auch „Evolutionſ-Theorie“ genannt; allein unter dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz verſchiedene Tranſformationſ-Theorie. Einſchachtelungs-Lehre (Scatulationſ-Theorie). In engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr- hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga- nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene- ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be- rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes — die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er- ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch- angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „die Seelen der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt“. Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich Wolff (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine Haeckel, Welträthſel. 5

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/81>, abgerufen am 19.04.2024.