"Auswickelung" (Evolutio) der eingewickelten Theile (Partes involutae). Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang unseres Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird sie auch "Evolutions-Theorie" genannt; allein unter diesem Begriffe verstehen viele neuere Autoren auch die ganz verschiedene Transformations-Theorie.
Einschachtelungs-Lehre(Scatulations-Theorie). In engem Zusammenhange mit der Präformations-Lehre, und in berechtigter Schlußfolge aus derselben entstand im vorigen Jahr- hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beschäftigte, die sonderbare "Einschachtelungslehre". Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga- nismus mit allen seinen Theilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene- ration darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier der nächstfolgenden u. s. w., in infinitum! Darauf hin be- rechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren -- am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes -- die Keime von 200000 Millionen Menschen gleichzeitig er- schaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch- angesehene Philosoph Leibniz schloß sich diesen Ausführungen an und verwerthete sie für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sie auch auf die Seele: -- "die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organisirter Körper existirt".
Epigenesis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caspar Friedrich Wolff (-- der Sohn eines Berliner Schneiders --), seine
Haeckel, Welträthsel. 5
IV. Einſchachtelungs-Lehre.
„Auswickelung“ (Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ involutae). Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird ſie auch „Evolutionſ-Theorie“ genannt; allein unter dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz verſchiedene Tranſformationſ-Theorie.
Einſchachtelungs-Lehre(Scatulationſ-Theorie). In engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr- hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga- nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene- ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be- rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes — die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er- ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch- angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „die Seelen der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt“.
Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich Wolff (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine
Haeckel, Welträthſel. 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0081"n="65"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">IV.</hi> Einſchachtelungs-Lehre.</fw><lb/>„<hirendition="#g">Auswickelung</hi>“<hirendition="#aq">(Evolutio)</hi> der eingewickelten Theile <hirendition="#aq">(Parteſ<lb/>
involutae)</hi>. Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres<lb/>
Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am<lb/>
beſten die Vorbildungslehre oder <hirendition="#g">Präformations-Theorie</hi>;<lb/>
oft wird ſie auch <hirendition="#aq">„Evolutionſ-Theorie“</hi> genannt; allein unter<lb/>
dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz<lb/>
verſchiedene <hirendition="#aq">Tranſformationſ-Theorie</hi>.</p><lb/><p><hirendition="#g">Einſchachtelungs-Lehre</hi><hirendition="#aq">(Scatulationſ-Theorie)</hi>. In<lb/>
engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in<lb/>
berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr-<lb/>
hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen<lb/>
lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da<lb/>
man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga-<lb/>
nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der<lb/>
Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene-<lb/>
ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier<lb/>
der nächſtfolgenden u. ſ. w., <hirendition="#aq">in infinitum</hi>! Darauf hin be-<lb/>
rechnete der berühmte Phyſiologe <hirendition="#g">Haller</hi>, daß der liebe Gott<lb/>
vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes —<lb/>
die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er-<lb/>ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva<lb/>
kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch-<lb/>
angeſehene Philoſoph <hirendition="#g">Leibniz</hi>ſchloß ſich dieſen Ausführungen<lb/>
an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer<lb/>
zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft<lb/>
befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: —„die Seelen<lb/>
der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit<lb/>
dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter<lb/>
Körper exiſtirt“.</p><lb/><p><hirendition="#b">Epigeneſis-Lehre.</hi> Im November 1759 vertheidigte in<lb/>
Halle ein junger 26jähriger Mediciner, <hirendition="#g">Caſpar Friedrich<lb/>
Wolff</hi> (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Haeckel</hi>, Welträthſel. 5</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[65/0081]
IV. Einſchachtelungs-Lehre.
„Auswickelung“ (Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ
involutae). Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres
Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am
beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie;
oft wird ſie auch „Evolutionſ-Theorie“ genannt; allein unter
dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz
verſchiedene Tranſformationſ-Theorie.
Einſchachtelungs-Lehre (Scatulationſ-Theorie). In
engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in
berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr-
hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen
lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da
man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga-
nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der
Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene-
ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier
der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be-
rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott
vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes —
die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er-
ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva
kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch-
angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen
an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer
zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft
befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „die Seelen
der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit
dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter
Körper exiſtirt“.
Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in
Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich
Wolff (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine
Haeckel, Welträthſel. 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/81>, abgerufen am 19.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.