Müller. Ursprünglich ausgehend von der Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen Thiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle Erschei- nungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte, erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologischen Erkenntniß.
Die werthvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes Müller war sein "Handbuch der Physiologie des Menschen" (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieses klassische Werk gab viel mehr, als der Titel besagt; es ist der Entwurf zu einer umfassenden "Ver- gleichenden Biologie". Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller- dings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das "Leben" selbst, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erscheinungen, die wir am lebendigen Organis- mus wahrnehmen. Ueberall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,
Vergleichende Phyſiologie. III.
Müller. Urſprünglich ausgehend von der Anatomie und Phyſiologie des Menſchen, zog derſelbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis ſeiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgeſtorbenen Thiere mit den lebenden, den geſunden Organismus des Menſchen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philoſophiſch alle Erſchei- nungen des organiſchen Lebens zuſammenzufaſſen ſtrebte, erhob er ſich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologiſchen Erkenntniß.
Die werthvollſte Frucht dieſer umfaſſenden Studien von Johannes Müller war ſein „Handbuch der Phyſiologie des Menſchen“ (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieſes klaſſiſche Werk gab viel mehr, als der Titel beſagt; es iſt der Entwurf zu einer umfaſſenden „Ver- gleichenden Biologie“. Noch heute ſteht dasſelbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forſchungsgebietes unübertroffen da. Insbeſondere ſind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenſo muſtergültig angewendet wie die philoſophiſchen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller- dings war Müller urſprünglich, gleich allen Phyſiologen ſeiner Zeit, Vitaliſt. Allein die herrſchende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte ſich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Phyſiologie war Müller beſtrebt, die Lebenserſcheinungen mechaniſch zu erklären; ſeine reformirte Lebenskraft ſteht nicht über den phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen der übrigen Natur, ſondern ſie iſt ſtreng an dieſelben gebunden; ſie iſt ſchließlich weiter nichts als das „Leben“ ſelbſt, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erſcheinungen, die wir am lebendigen Organis- mus wahrnehmen. Ueberall war er beſtrebt, dieſelben mechaniſch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,
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Vergleichende Phyſiologie. III.
Müller. Urſprünglich ausgehend von der Anatomie und
Phyſiologie des Menſchen, zog derſelbe bald alle Hauptgruppen
der höheren und niederen Thiere in den Kreis ſeiner Vergleichung.
Indem er zugleich die Bildung der ausgeſtorbenen Thiere mit
den lebenden, den geſunden Organismus des Menſchen mit dem
kranken verglich, indem er wahrhaft philoſophiſch alle Erſchei-
nungen des organiſchen Lebens zuſammenzufaſſen ſtrebte, erhob
er ſich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologiſchen
Erkenntniß.
Die werthvollſte Frucht dieſer umfaſſenden Studien von
Johannes Müller war ſein „Handbuch der Phyſiologie
des Menſchen“ (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte
Auflage 1844). Dieſes klaſſiſche Werk gab viel mehr, als der
Titel beſagt; es iſt der Entwurf zu einer umfaſſenden „Ver-
gleichenden Biologie“. Noch heute ſteht dasſelbe in Bezug
auf Inhalt und Umfang des Forſchungsgebietes unübertroffen
da. Insbeſondere ſind darin die Methoden der Beobachtung
und des Experimentes ebenſo muſtergültig angewendet wie die
philoſophiſchen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller-
dings war Müller urſprünglich, gleich allen Phyſiologen ſeiner
Zeit, Vitaliſt. Allein die herrſchende Lehre von der Lebenskraft
nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte ſich allmählich
in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der
Phyſiologie war Müller beſtrebt, die Lebenserſcheinungen
mechaniſch zu erklären; ſeine reformirte Lebenskraft ſteht nicht
über den phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen der übrigen
Natur, ſondern ſie iſt ſtreng an dieſelben gebunden; ſie iſt
ſchließlich weiter nichts als das „Leben“ ſelbſt, d. h. die Summe
aller Bewegungs-Erſcheinungen, die wir am lebendigen Organis-
mus wahrnehmen. Ueberall war er beſtrebt, dieſelben mechaniſch
zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der
Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/70>, abgerufen am 25.04.2024.
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