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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Mechanische Physiologie. III.
Bewegungs-Erscheinungen ließen sich auf mechanische Vorgänge,
die Athmung und Verdauung auf chemische Processe gleich den-
jenigen in der anorganischen Natur zurückführen; dagegen bei
den wunderbaren Leistungen der Nerven und Muskeln wie im
eigentlichen "Seelenleben" schien das unmöglich; und auch das
einheitliche Zusammenwirken aller dieser verschiedenen Kräfte im
Leben des Individuums erschien damit unerklärbar. So ent-
wickelte sich ein vollständiger physiologischer Dualismus --
ein principieller Gegensatz zwischen anorganischer und organischer
Natur, zwischen mechanischen und vitalen Processen, zwischen
materieller Kraft und Lebenskraft, zwischen Leib und Seele. Im
Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieser Vitalismus besonders
eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch
Reil in Deutschland. Eine schöne poetische Darstellung des-
selben hatte schon 1795 Alexander Humboldt in seiner
Erzählung vom Rhodischen Genius gegeben (-- wiederholt mit
kritischen Anmerkungen in den "Ansichten der Natur" --).

Der Mechanismus des Lebens (monistische Physiologie).
Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der
berühmte Philosoph Descartes, fußend auf Harvey's
Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgesprochen, daß
der Körper des Menschen ebenso wie der Thiere eine komplizirte
Maschine sei, und daß ihre Bewegungen nach denselben mecha-
nischen Gesetzen erfolgen wie bei den künstlichen, vom Menschen
für einen bestimmten Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm
Descartes trotzdem für den Menschen allein eine vollkommene
Selbständigkeit der immateriellen Seele an und erklärte sogar
deren subjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in
der Welt, von dem wir unmittelbar ganz sichere Kenntniß be-
sitzen ("Cogito, ergo sum!"). Allein dieser Dualismus hinderte
ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechanischen Lebens-
thätigkeiten vielseitig zu fördern. Im Anschluß daran führte

Mechaniſche Phyſiologie. III.
Bewegungs-Erſcheinungen ließen ſich auf mechaniſche Vorgänge,
die Athmung und Verdauung auf chemiſche Proceſſe gleich den-
jenigen in der anorganiſchen Natur zurückführen; dagegen bei
den wunderbaren Leiſtungen der Nerven und Muskeln wie im
eigentlichen „Seelenleben“ ſchien das unmöglich; und auch das
einheitliche Zuſammenwirken aller dieſer verſchiedenen Kräfte im
Leben des Individuums erſchien damit unerklärbar. So ent-
wickelte ſich ein vollſtändiger phyſiologiſcher Dualismus
ein principieller Gegenſatz zwiſchen anorganiſcher und organiſcher
Natur, zwiſchen mechaniſchen und vitalen Proceſſen, zwiſchen
materieller Kraft und Lebenskraft, zwiſchen Leib und Seele. Im
Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieſer Vitalismus beſonders
eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch
Reil in Deutſchland. Eine ſchöne poetiſche Darſtellung des-
ſelben hatte ſchon 1795 Alexander Humboldt in ſeiner
Erzählung vom Rhodiſchen Genius gegeben (— wiederholt mit
kritiſchen Anmerkungen in den „Anſichten der Natur“ —).

Der Mechanismus des Lebens (moniſtiſche Phyſiologie).
Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der
berühmte Philoſoph Descartes, fußend auf Harvey's
Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgeſprochen, daß
der Körper des Menſchen ebenſo wie der Thiere eine komplizirte
Maſchine ſei, und daß ihre Bewegungen nach denſelben mecha-
niſchen Geſetzen erfolgen wie bei den künſtlichen, vom Menſchen
für einen beſtimmten Zweck gebauten Maſchinen. Allerdings nahm
Descartes trotzdem für den Menſchen allein eine vollkommene
Selbſtändigkeit der immateriellen Seele an und erklärte ſogar
deren ſubjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in
der Welt, von dem wir unmittelbar ganz ſichere Kenntniß be-
ſitzen („Cogito, ergo ſum!“). Allein dieſer Dualismus hinderte
ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechaniſchen Lebens-
thätigkeiten vielſeitig zu fördern. Im Anſchluß daran führte

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[52/0068] Mechaniſche Phyſiologie. III. Bewegungs-Erſcheinungen ließen ſich auf mechaniſche Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf chemiſche Proceſſe gleich den- jenigen in der anorganiſchen Natur zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leiſtungen der Nerven und Muskeln wie im eigentlichen „Seelenleben“ ſchien das unmöglich; und auch das einheitliche Zuſammenwirken aller dieſer verſchiedenen Kräfte im Leben des Individuums erſchien damit unerklärbar. So ent- wickelte ſich ein vollſtändiger phyſiologiſcher Dualismus — ein principieller Gegenſatz zwiſchen anorganiſcher und organiſcher Natur, zwiſchen mechaniſchen und vitalen Proceſſen, zwiſchen materieller Kraft und Lebenskraft, zwiſchen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieſer Vitalismus beſonders eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch Reil in Deutſchland. Eine ſchöne poetiſche Darſtellung des- ſelben hatte ſchon 1795 Alexander Humboldt in ſeiner Erzählung vom Rhodiſchen Genius gegeben (— wiederholt mit kritiſchen Anmerkungen in den „Anſichten der Natur“ —). Der Mechanismus des Lebens (moniſtiſche Phyſiologie). Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philoſoph Descartes, fußend auf Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgeſprochen, daß der Körper des Menſchen ebenſo wie der Thiere eine komplizirte Maſchine ſei, und daß ihre Bewegungen nach denſelben mecha- niſchen Geſetzen erfolgen wie bei den künſtlichen, vom Menſchen für einen beſtimmten Zweck gebauten Maſchinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menſchen allein eine vollkommene Selbſtändigkeit der immateriellen Seele an und erklärte ſogar deren ſubjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz ſichere Kenntniß be- ſitzen („Cogito, ergo ſum!“). Allein dieſer Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechaniſchen Lebens- thätigkeiten vielſeitig zu fördern. Im Anſchluß daran führte

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/68>, abgerufen am 20.04.2024.