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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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III. Lebenskraft. Vitalismus.
hunderts, blieb in der Medicin, und speciell in der Physiologie,
die alte Anschauung herrschend, daß zwar ein Theil der Lebens-
Erscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurück-
zuführen sei, daß aber ein anderer Theil derselben durch eine
besondere, davon unabhängige Lebenskraft (Vis vitalis) be-
wirkt werde. So verschiedenartig auch die besonderen Vor-
stellungen vom Wesen derselben und besonders von ihrem Zu-
sammenhang mit der "Seele" sich ausbildeten, so stimmten doch
alle darin überein, daß die Lebenskraft von den physikalisch-
chemischen Kräften der gewöhnlichen "Materie" unabhängig und
wesentlich verschieden sei; als eine selbständige, der anorganischen
Natur fehlende "Urkraft" (Archaeus) sollte sie die ersteren
in ihren Dienst nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit selbst,
die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln,
sondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort-
pflanzung und Entwickelung erschienen allgemein so wunderbar
und in ihren Ursachen so räthselhaft, daß es unmöglich sei, sie
auf einfache physikalische und chemische Naturprocesse zurückzu-
führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und
bewußt wirkte, führte sie in der Philosophie zu einer voll-
kommenen Teleologie; besonders erschien diese unbestreitbar,
seitdem selbst der "kritische" Philosoph Kant in seiner be-
rühmten Kritik der teleologischen Urtheilskraft zugestanden hatte,
daß zwar die Befugniß der menschlichen Vernunft zur mecha-
nischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei, daß aber
die Fähigkeit dazu bei den Erscheinungen des organischen Lebens
aufhöre; hier müsse man nothgedrungen zu einem "zweckmäßig
thätigen", also übernatürlichen Princip seine Zuflucht nehmen.
Natürlich wurde der Gegensatz dieser vitalen Phänomene zu
den mechanischen Lebensthätigkeiten um so auffälliger, je
weiter man in der chemischen und physikalischen Erklärung der
letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen

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III. Lebenskraft. Vitalismus.
hunderts, blieb in der Medicin, und ſpeciell in der Phyſiologie,
die alte Anſchauung herrſchend, daß zwar ein Theil der Lebens-
Erſcheinungen auf phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge zurück-
zuführen ſei, daß aber ein anderer Theil derſelben durch eine
beſondere, davon unabhängige Lebenskraft (Viſ vitaliſ) be-
wirkt werde. So verſchiedenartig auch die beſonderen Vor-
ſtellungen vom Weſen derſelben und beſonders von ihrem Zu-
ſammenhang mit der „Seele“ ſich ausbildeten, ſo ſtimmten doch
alle darin überein, daß die Lebenskraft von den phyſikaliſch-
chemiſchen Kräften der gewöhnlichen „Materie“ unabhängig und
weſentlich verſchieden ſei; als eine ſelbſtändige, der anorganiſchen
Natur fehlende „Urkraft(Archaeuſ) ſollte ſie die erſteren
in ihren Dienſt nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit ſelbſt,
die Senſibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln,
ſondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort-
pflanzung und Entwickelung erſchienen allgemein ſo wunderbar
und in ihren Urſachen ſo räthſelhaft, daß es unmöglich ſei, ſie
auf einfache phyſikaliſche und chemiſche Naturproceſſe zurückzu-
führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und
bewußt wirkte, führte ſie in der Philoſophie zu einer voll-
kommenen Teleologie; beſonders erſchien dieſe unbeſtreitbar,
ſeitdem ſelbſt der „kritiſche“ Philoſoph Kant in ſeiner be-
rühmten Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft zugeſtanden hatte,
daß zwar die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mecha-
niſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei, daß aber
die Fähigkeit dazu bei den Erſcheinungen des organiſchen Lebens
aufhöre; hier müſſe man nothgedrungen zu einem „zweckmäßig
thätigen“, alſo übernatürlichen Princip ſeine Zuflucht nehmen.
Natürlich wurde der Gegenſatz dieſer vitalen Phänomene zu
den mechaniſchen Lebensthätigkeiten um ſo auffälliger, je
weiter man in der chemiſchen und phyſikaliſchen Erklärung der
letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen

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[51/0067] III. Lebenskraft. Vitalismus. hunderts, blieb in der Medicin, und ſpeciell in der Phyſiologie, die alte Anſchauung herrſchend, daß zwar ein Theil der Lebens- Erſcheinungen auf phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge zurück- zuführen ſei, daß aber ein anderer Theil derſelben durch eine beſondere, davon unabhängige Lebenskraft (Viſ vitaliſ) be- wirkt werde. So verſchiedenartig auch die beſonderen Vor- ſtellungen vom Weſen derſelben und beſonders von ihrem Zu- ſammenhang mit der „Seele“ ſich ausbildeten, ſo ſtimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den phyſikaliſch- chemiſchen Kräften der gewöhnlichen „Materie“ unabhängig und weſentlich verſchieden ſei; als eine ſelbſtändige, der anorganiſchen Natur fehlende „Urkraft“ (Archaeuſ) ſollte ſie die erſteren in ihren Dienſt nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit ſelbſt, die Senſibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, ſondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort- pflanzung und Entwickelung erſchienen allgemein ſo wunderbar und in ihren Urſachen ſo räthſelhaft, daß es unmöglich ſei, ſie auf einfache phyſikaliſche und chemiſche Naturproceſſe zurückzu- führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte, führte ſie in der Philoſophie zu einer voll- kommenen Teleologie; beſonders erſchien dieſe unbeſtreitbar, ſeitdem ſelbſt der „kritiſche“ Philoſoph Kant in ſeiner be- rühmten Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft zugeſtanden hatte, daß zwar die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mecha- niſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei, daß aber die Fähigkeit dazu bei den Erſcheinungen des organiſchen Lebens aufhöre; hier müſſe man nothgedrungen zu einem „zweckmäßig thätigen“, alſo übernatürlichen Princip ſeine Zuflucht nehmen. Natürlich wurde der Gegenſatz dieſer vitalen Phänomene zu den mechaniſchen Lebensthätigkeiten um ſo auffälliger, je weiter man in der chemiſchen und phyſikaliſchen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen 4*

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/67>, abgerufen am 18.04.2024.