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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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I. Kosmologische Perspektive.
der erst gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von
Menschen-Affen hervorgegangen ist. 12. Demnach ist die so-
genannte "Weltgeschichte" -- d. h. der kurze Zeitraum von
wenigen Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte
des Menschen abgespielt hat, eine verschwindend kurze Episode
in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso
wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres
Planeten-Systems; und wie unsere Mutter Erde ein vergäng-
liches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne
Mensch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or-
ganischen Natur.

Nichts scheint mir geeigneter als diese großartige kosmo-
logische Perspektive
, um von vornherein den richtigen Maaß-
stab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur
Lösung der großen, uns umgebenden Welträthsel einhalten müssen.
Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende "Stellung des
Menschen in der Natur" klar bewiesen, sondern auch der herr-
schende anthropistische Größenwahn widerlegt, die An-
maaßung, mit der der Mensch sich dem unendlichen Universum
gegenüberstellt und als wichtigsten Theil des Weltalls verherrlicht.
Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eiteln Menschen hat ihn
dazu verführt, sich als "Ebenbild Gottes" zu betrachten, für
seine vergängliche Person ein "ewiges Leben" in Anspruch zu
nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte "Freiheit des
Willens" besitzt. Der lächerliche Cäsaren-Wahn des Caligula ist
eine specielle Form dieser hochmüthigen Selbstvergötterung des
Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn auf-
geben und die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen,
können wir zur Lösung der "Welträthsel" gelangen 1.

Zahl der Welträthsel. Der ungebildete Kulturmensch ist
noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt
von unzähligen Welträthseln umgeben. Je weiter die Kultur

Haeckel, Welträthsel. 2

I. Kosmologiſche Perſpektive.
der erſt gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von
Menſchen-Affen hervorgegangen iſt. 12. Demnach iſt die ſo-
genannte „Weltgeſchichte“ — d. h. der kurze Zeitraum von
wenigen Jahrtauſenden, innerhalb deſſen ſich die Kulturgeſchichte
des Menſchen abgeſpielt hat, eine verſchwindend kurze Epiſode
in dem langen Verlaufe der organiſchen Erdgeſchichte, ebenſo
wie dieſe ſelbſt ein kleines Stück von der Geſchichte unſeres
Planeten-Syſtems; und wie unſere Mutter Erde ein vergäng-
liches Sonnenſtäubchen im unendlichen Weltall, ſo iſt der einzelne
Menſch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or-
ganiſchen Natur.

Nichts ſcheint mir geeigneter als dieſe großartige kosmo-
logiſche Perſpektive
, um von vornherein den richtigen Maaß-
ſtab und den weitſichtigen Standpunkt feſtzuſetzen, welchen wir zur
Löſung der großen, uns umgebenden Welträthſel einhalten müſſen.
Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende „Stellung des
Menſchen in der Natur“ klar bewieſen, ſondern auch der herr-
ſchende anthropiſtiſche Größenwahn widerlegt, die An-
maaßung, mit der der Menſch ſich dem unendlichen Univerſum
gegenüberſtellt und als wichtigſten Theil des Weltalls verherrlicht.
Dieſe grenzenloſe Selbſtüberhebung des eiteln Menſchen hat ihn
dazu verführt, ſich als „Ebenbild Gottes“ zu betrachten, für
ſeine vergängliche Perſon ein „ewiges Leben“ in Anſpruch zu
nehmen und ſich einzubilden, daß er unbeſchränkte „Freiheit des
Willens“ beſitzt. Der lächerliche Cäſaren-Wahn des Caligula iſt
eine ſpecielle Form dieſer hochmüthigen Selbſtvergötterung des
Menſchen. Erſt wenn wir dieſen unhaltbaren Größenwahn auf-
geben und die naturgemäße kosmologiſche Perſpektive einnehmen,
können wir zur Löſung der „Welträthſel“ gelangen 1.

Zahl der Welträthſel. Der ungebildete Kulturmenſch iſt
noch ebenſo wie der rohe Naturmenſch auf Schritt und Tritt
von unzähligen Welträthſeln umgeben. Je weiter die Kultur

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[17/0033] I. Kosmologiſche Perſpektive. der erſt gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von Menſchen-Affen hervorgegangen iſt. 12. Demnach iſt die ſo- genannte „Weltgeſchichte“ — d. h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtauſenden, innerhalb deſſen ſich die Kulturgeſchichte des Menſchen abgeſpielt hat, eine verſchwindend kurze Epiſode in dem langen Verlaufe der organiſchen Erdgeſchichte, ebenſo wie dieſe ſelbſt ein kleines Stück von der Geſchichte unſeres Planeten-Syſtems; und wie unſere Mutter Erde ein vergäng- liches Sonnenſtäubchen im unendlichen Weltall, ſo iſt der einzelne Menſch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or- ganiſchen Natur. Nichts ſcheint mir geeigneter als dieſe großartige kosmo- logiſche Perſpektive, um von vornherein den richtigen Maaß- ſtab und den weitſichtigen Standpunkt feſtzuſetzen, welchen wir zur Löſung der großen, uns umgebenden Welträthſel einhalten müſſen. Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende „Stellung des Menſchen in der Natur“ klar bewieſen, ſondern auch der herr- ſchende anthropiſtiſche Größenwahn widerlegt, die An- maaßung, mit der der Menſch ſich dem unendlichen Univerſum gegenüberſtellt und als wichtigſten Theil des Weltalls verherrlicht. Dieſe grenzenloſe Selbſtüberhebung des eiteln Menſchen hat ihn dazu verführt, ſich als „Ebenbild Gottes“ zu betrachten, für ſeine vergängliche Perſon ein „ewiges Leben“ in Anſpruch zu nehmen und ſich einzubilden, daß er unbeſchränkte „Freiheit des Willens“ beſitzt. Der lächerliche Cäſaren-Wahn des Caligula iſt eine ſpecielle Form dieſer hochmüthigen Selbſtvergötterung des Menſchen. Erſt wenn wir dieſen unhaltbaren Größenwahn auf- geben und die naturgemäße kosmologiſche Perſpektive einnehmen, können wir zur Löſung der „Welträthſel“ gelangen ¹ . Zahl der Welträthſel. Der ungebildete Kulturmenſch iſt noch ebenſo wie der rohe Naturmenſch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträthſeln umgeben. Je weiter die Kultur Haeckel, Welträthſel. 2

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/33>, abgerufen am 29.03.2024.