Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Vernunft und Offenbarung.

Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Aus diesen
bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegensätzen ergeben
sich für unser modernes Kultur-Leben schwere Konflikte, deren
Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige
Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeschrittenen Wissenschaft,
verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und
privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittels der Ver-
nunft
auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich
auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir
unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen
sträuben sich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise,
welche unsere Geistesbildung in betreff der wichtigsten Probleme
in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten
wollen: sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen
und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese "höhere Offen-
barung" beugen solle. Das ist der Fall in weiten Kreisen der
Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz.
Die Beweggründe dieser letzteren beruhen zum größten Theile
gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben,
sondern theils auf Unkenntniß der realen Thatsachen, theils auf
der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen
Feindinnen der Vernunft und Wissenschaft ist die gefährlichste
nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch
mehr die Trägheit. Gegen diese beiden letzteren Mächte kämpfen
selbst Götter dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich
überwunden haben.

Anthropismus. Eine der mächtigsten Stützen gewährt
jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder
die "Vermenschlichung". Unter diesem Begriffe verstehe ich
"jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm-
lichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in
Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vor-

I. Vernunft und Offenbarung.

Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Aus dieſen
bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegenſätzen ergeben
ſich für unſer modernes Kultur-Leben ſchwere Konflikte, deren
Gefahr dringend zur Beſeitigung auffordert. Unſere heutige
Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft,
verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und
privaten Lebens; ſie wünſcht die Menſchheit mittels der Ver-
nunft
auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich
auf jenen beſſeren Weg zum Glück erhoben zu ſehen, welche wir
unſerer hoch entwickelten Naturwiſſenſchaft verdanken. Dagegen
ſträuben ſich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreiſe,
welche unſere Geiſtesbildung in betreff der wichtigſten Probleme
in den überwundenen Anſchauungen des Mittelalters zurückhalten
wollen: ſie verharren im Banne der traditionellen Dogmen
und verlangen, daß die Vernunft ſich unter dieſe „höhere Offen-
barung“ beugen ſolle. Das iſt der Fall in weiten Kreiſen der
Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz.
Die Beweggründe dieſer letzteren beruhen zum größten Theile
gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben,
ſondern theils auf Unkenntniß der realen Thatſachen, theils auf
der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen
Feindinnen der Vernunft und Wiſſenſchaft iſt die gefährlichſte
nicht die Bosheit, ſondern die Unwiſſenheit und vielleicht noch
mehr die Trägheit. Gegen dieſe beiden letzteren Mächte kämpfen
ſelbſt Götter dann noch vergebens, wenn ſie die erſtere glücklich
überwunden haben.

Anthropismus. Eine der mächtigſten Stützen gewährt
jener rückſtändigen Weltanſchauung der Anthropismus oder
die „Vermenſchlichung“. Unter dieſem Begriffe verſtehe ich
„jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm-
lichen Vorſtellungen, welcher den menſchlichen Organismus in
Gegenſatz zu der ganzen übrigen Natur ſtellt, ihn als vor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0029" n="13"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Vernunft und Offenbarung.</fw><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Konflikt zwi&#x017F;chen Vernunft und Dogma.</hi> Aus die&#x017F;en<lb/>
bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegen&#x017F;ätzen ergeben<lb/>
&#x017F;ich für un&#x017F;er modernes Kultur-Leben &#x017F;chwere Konflikte, deren<lb/>
Gefahr dringend zur Be&#x017F;eitigung auffordert. Un&#x017F;ere heutige<lb/>
Bildung, als Ergebniß der mächtig vorge&#x017F;chrittenen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft,<lb/>
verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und<lb/>
privaten Lebens; &#x017F;ie wün&#x017F;cht die Men&#x017F;chheit mittels der <hi rendition="#g">Ver-<lb/>
nunft</hi> auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich<lb/>
auf jenen be&#x017F;&#x017F;eren Weg zum Glück erhoben zu &#x017F;ehen, welche wir<lb/>
un&#x017F;erer hoch entwickelten Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft verdanken. Dagegen<lb/>
&#x017F;träuben &#x017F;ich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Krei&#x017F;e,<lb/>
welche un&#x017F;ere Gei&#x017F;tesbildung in betreff der wichtig&#x017F;ten Probleme<lb/>
in den überwundenen An&#x017F;chauungen des Mittelalters zurückhalten<lb/>
wollen: &#x017F;ie verharren im Banne der traditionellen <hi rendition="#g">Dogmen</hi><lb/>
und verlangen, daß die Vernunft &#x017F;ich unter die&#x017F;e &#x201E;höhere Offen-<lb/>
barung&#x201C; beugen &#x017F;olle. Das i&#x017F;t der Fall in weiten Krei&#x017F;en der<lb/>
Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz.<lb/>
Die Beweggründe die&#x017F;er letzteren beruhen zum größten Theile<lb/>
gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben,<lb/>
&#x017F;ondern theils auf Unkenntniß der realen That&#x017F;achen, theils auf<lb/>
der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen<lb/>
Feindinnen der Vernunft und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t die gefährlich&#x017F;te<lb/>
nicht die Bosheit, &#x017F;ondern die Unwi&#x017F;&#x017F;enheit und vielleicht noch<lb/>
mehr die Trägheit. Gegen die&#x017F;e beiden letzteren Mächte kämpfen<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t Götter dann noch vergebens, wenn &#x017F;ie die er&#x017F;tere glücklich<lb/>
überwunden haben.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Anthropismus.</hi> Eine der mächtig&#x017F;ten Stützen gewährt<lb/>
jener rück&#x017F;tändigen Weltan&#x017F;chauung der <hi rendition="#g">Anthropismus</hi> oder<lb/>
die &#x201E;<hi rendition="#g">Vermen&#x017F;chlichung</hi>&#x201C;. Unter die&#x017F;em Begriffe ver&#x017F;tehe ich<lb/>
&#x201E;jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm-<lb/>
lichen Vor&#x017F;tellungen, welcher den men&#x017F;chlichen Organismus in<lb/>
Gegen&#x017F;atz zu der ganzen übrigen Natur &#x017F;tellt, ihn als vor-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0029] I. Vernunft und Offenbarung. Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Aus dieſen bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegenſätzen ergeben ſich für unſer modernes Kultur-Leben ſchwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beſeitigung auffordert. Unſere heutige Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft, verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; ſie wünſcht die Menſchheit mittels der Ver- nunft auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich auf jenen beſſeren Weg zum Glück erhoben zu ſehen, welche wir unſerer hoch entwickelten Naturwiſſenſchaft verdanken. Dagegen ſträuben ſich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreiſe, welche unſere Geiſtesbildung in betreff der wichtigſten Probleme in den überwundenen Anſchauungen des Mittelalters zurückhalten wollen: ſie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft ſich unter dieſe „höhere Offen- barung“ beugen ſolle. Das iſt der Fall in weiten Kreiſen der Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz. Die Beweggründe dieſer letzteren beruhen zum größten Theile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben, ſondern theils auf Unkenntniß der realen Thatſachen, theils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wiſſenſchaft iſt die gefährlichſte nicht die Bosheit, ſondern die Unwiſſenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen dieſe beiden letzteren Mächte kämpfen ſelbſt Götter dann noch vergebens, wenn ſie die erſtere glücklich überwunden haben. Anthropismus. Eine der mächtigſten Stützen gewährt jener rückſtändigen Weltanſchauung der Anthropismus oder die „Vermenſchlichung“. Unter dieſem Begriffe verſtehe ich „jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm- lichen Vorſtellungen, welcher den menſchlichen Organismus in Gegenſatz zu der ganzen übrigen Natur ſtellt, ihn als vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/29
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/29>, abgerufen am 25.04.2024.