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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Zustand der modernen Kirche. I.
und Entwicklungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine
oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge-
dächtniß mit einer Unmasse von philologischen und historischen
Thatsachen überladen, die weder für die theoretische Bildung
noch für das praktische Leben von Nutzen sind. Aber auch die
veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältnisse der Universi-
täten entsprechen der heutigen Entwicklungsstufe der monistischen
Weltanschauung ebenso wenig, als die Unterrichts-Leitung in
den Gymnasien und in den niederen Schulen.

Unsere Kirche. Den Gipfel des Gegensatzes gegen die
moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeschrittene
Natur-Erkenntniß, erreicht unstreitig die Kirche. Wir wollen
hier gar nicht vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von
den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in Bezug
auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des krassesten Aber-
glaubens nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die
Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durch-
schnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr
gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten-
lehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19. Kapitel) voll-
kommen harmoniren, und neben humanistischen Erörterungen, die
wir durchaus billigen, Vorstellungen über das Wesen von Gott
und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erfahrungen der
Naturforschung direct widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn
Techniker und Chemiker, Aerzte und Philosophen, die gründlich
über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Pre-
digten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theo-
logen ebenso wie unseren Philologen, unseren Politikern ebenso
wie unseren Juristen an jener unentbehrlichen Natur-
kenntniß
, welche sich auf die monistische Entwickelungslehre
gründet, und welche bereits in den festen Besitzstand unserer
modernen Wissenschaft übergegangen ist.

Zuſtand der modernen Kirche. I.
und Entwicklungslehre auf unſeren höheren Schulen gar keine
oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge-
dächtniß mit einer Unmaſſe von philologiſchen und hiſtoriſchen
Thatſachen überladen, die weder für die theoretiſche Bildung
noch für das praktiſche Leben von Nutzen ſind. Aber auch die
veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältniſſe der Univerſi-
täten entſprechen der heutigen Entwicklungsſtufe der moniſtiſchen
Weltanſchauung ebenſo wenig, als die Unterrichts-Leitung in
den Gymnaſien und in den niederen Schulen.

Unſere Kirche. Den Gipfel des Gegenſatzes gegen die
moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeſchrittene
Natur-Erkenntniß, erreicht unſtreitig die Kirche. Wir wollen
hier gar nicht vom ultramontanen Papismus ſprechen, oder von
den orthodoxen evangeliſchen Richtungen, welche dieſem in Bezug
auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des kraſſeſten Aber-
glaubens nichts nachgeben. Vielmehr verſetzen wir uns in die
Predigt eines liberalen proteſtantiſchen Pfarrers, der gute Durch-
ſchnittsbildung beſitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr
gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten-
lehren, die mit unſerer moniſtiſchen Ethik (im 19. Kapitel) voll-
kommen harmoniren, und neben humaniſtiſchen Erörterungen, die
wir durchaus billigen, Vorſtellungen über das Weſen von Gott
und Welt, von Menſch und Leben, welche allen Erfahrungen der
Naturforſchung direct widerſprechen. Es iſt kein Wunder, wenn
Techniker und Chemiker, Aerzte und Philoſophen, die gründlich
über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, ſolchen Pre-
digten kein Gehör ſchenken wollen. Es fehlt eben unſeren Theo-
logen ebenſo wie unſeren Philologen, unſeren Politikern ebenſo
wie unſeren Juriſten an jener unentbehrlichen Natur-
kenntniß
, welche ſich auf die moniſtiſche Entwickelungslehre
gründet, und welche bereits in den feſten Beſitzſtand unſerer
modernen Wiſſenſchaft übergegangen iſt.

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[12/0028] Zuſtand der modernen Kirche. I. und Entwicklungslehre auf unſeren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge- dächtniß mit einer Unmaſſe von philologiſchen und hiſtoriſchen Thatſachen überladen, die weder für die theoretiſche Bildung noch für das praktiſche Leben von Nutzen ſind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältniſſe der Univerſi- täten entſprechen der heutigen Entwicklungsſtufe der moniſtiſchen Weltanſchauung ebenſo wenig, als die Unterrichts-Leitung in den Gymnaſien und in den niederen Schulen. Unſere Kirche. Den Gipfel des Gegenſatzes gegen die moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeſchrittene Natur-Erkenntniß, erreicht unſtreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht vom ultramontanen Papismus ſprechen, oder von den orthodoxen evangeliſchen Richtungen, welche dieſem in Bezug auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des kraſſeſten Aber- glaubens nichts nachgeben. Vielmehr verſetzen wir uns in die Predigt eines liberalen proteſtantiſchen Pfarrers, der gute Durch- ſchnittsbildung beſitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten- lehren, die mit unſerer moniſtiſchen Ethik (im 19. Kapitel) voll- kommen harmoniren, und neben humaniſtiſchen Erörterungen, die wir durchaus billigen, Vorſtellungen über das Weſen von Gott und Welt, von Menſch und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforſchung direct widerſprechen. Es iſt kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Aerzte und Philoſophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, ſolchen Pre- digten kein Gehör ſchenken wollen. Es fehlt eben unſeren Theo- logen ebenſo wie unſeren Philologen, unſeren Politikern ebenſo wie unſeren Juriſten an jener unentbehrlichen Natur- kenntniß, welche ſich auf die moniſtiſche Entwickelungslehre gründet, und welche bereits in den feſten Beſitzſtand unſerer modernen Wiſſenſchaft übergegangen iſt.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/28>, abgerufen am 19.04.2024.