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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Zustand der modernen Staatsordnung. I.
jene gründliche Kenntniß der Menschen-Natur, die nur durch
vergleichende Anthropologie und monistische Psychologie erworben
werden kann, -- ohne jene Kenntniß der socialen Verhältnisse,
deren organische Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und
Entwickelungsgeschichte, die Zellen-Theorie und die Protistenkunde
liefert. "Bau und Leben des socialen Körpers", d. h. des
Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir
naturwissenschaftliche Kenntniß von "Bau und Leben" der Per-
sonen
besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der
Zellen, welche jene Personen zusammensetzen*). Wenn diese
unschätzbaren biologischen und anthropologischen
Vorkenntnisse
unsere "Staatslenker" besäßen, und unsere
"Volksvertreter", die mit ihnen zusammenwirken, so würde
unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von
sociologischen Irrthümern und von politischer Kannegießerei zu
lesen sein, welche unsere Parlaments-Berichte und auch viele
Regierungs-Erlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das
Schlimmste freilich ist, wenn der moderne Kulturstaat sich der
kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der
bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz-
sichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dann entstehen
so traurige Bilder, wie sie uns leider jetzt am Schlusse des
19. Jahrhunderts der deutsche Reichstag vor Augen führt: die
Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultra-
montanen Centrums, unter der Leitung des römischen Papismus,
der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und
Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unsere
Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von
den Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine
naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschen-


*) Vergl. A. Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers. 1875.

Zuſtand der modernen Staatsordnung. I.
jene gründliche Kenntniß der Menſchen-Natur, die nur durch
vergleichende Anthropologie und moniſtiſche Pſychologie erworben
werden kann, — ohne jene Kenntniß der ſocialen Verhältniſſe,
deren organiſche Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und
Entwickelungsgeſchichte, die Zellen-Theorie und die Protiſtenkunde
liefert. „Bau und Leben des ſocialen Körpers“, d. h. des
Staates, lernen wir nur dann richtig verſtehen, wenn wir
naturwiſſenſchaftliche Kenntniß von „Bau und Leben“ der Per-
ſonen
beſitzen, welche den Staat zuſammenſetzen, und der
Zellen, welche jene Perſonen zuſammenſetzen*). Wenn dieſe
unſchätzbaren biologiſchen und anthropologiſchen
Vorkenntniſſe
unſere „Staatslenker“ beſäßen, und unſere
„Volksvertreter“, die mit ihnen zuſammenwirken, ſo würde
unmöglich in den Zeitungen täglich jene entſetzliche Fülle von
ſociologiſchen Irrthümern und von politiſcher Kannegießerei zu
leſen ſein, welche unſere Parlaments-Berichte und auch viele
Regierungs-Erlaſſe nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das
Schlimmſte freilich iſt, wenn der moderne Kulturſtaat ſich der
kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der
bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz-
ſichtigen Parteiführer die Hierarchie unterſtützt. Dann entſtehen
ſo traurige Bilder, wie ſie uns leider jetzt am Schluſſe des
19. Jahrhunderts der deutſche Reichstag vor Augen führt: die
Geſchicke des gebildeten deutſchen Volkes in der Hand des ultra-
montanen Centrums, unter der Leitung des römiſchen Papismus,
der ſein ärgſter und gefährlichſter Feind iſt. Statt Recht und
Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unſere
Staatsordnung kann nur dann beſſer werden, wenn ſie ſich von
den Feſſeln der Kirche befreit, und wenn ſie durch allgemeine
naturwiſſenſchaftliche Bildung die Welt- und Menſchen-


*) Vergl. A. Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers. 1875.
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[10/0026] Zuſtand der modernen Staatsordnung. I. jene gründliche Kenntniß der Menſchen-Natur, die nur durch vergleichende Anthropologie und moniſtiſche Pſychologie erworben werden kann, — ohne jene Kenntniß der ſocialen Verhältniſſe, deren organiſche Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwickelungsgeſchichte, die Zellen-Theorie und die Protiſtenkunde liefert. „Bau und Leben des ſocialen Körpers“, d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verſtehen, wenn wir naturwiſſenſchaftliche Kenntniß von „Bau und Leben“ der Per- ſonen beſitzen, welche den Staat zuſammenſetzen, und der Zellen, welche jene Perſonen zuſammenſetzen *). Wenn dieſe unſchätzbaren biologiſchen und anthropologiſchen Vorkenntniſſe unſere „Staatslenker“ beſäßen, und unſere „Volksvertreter“, die mit ihnen zuſammenwirken, ſo würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entſetzliche Fülle von ſociologiſchen Irrthümern und von politiſcher Kannegießerei zu leſen ſein, welche unſere Parlaments-Berichte und auch viele Regierungs-Erlaſſe nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das Schlimmſte freilich iſt, wenn der moderne Kulturſtaat ſich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz- ſichtigen Parteiführer die Hierarchie unterſtützt. Dann entſtehen ſo traurige Bilder, wie ſie uns leider jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts der deutſche Reichstag vor Augen führt: die Geſchicke des gebildeten deutſchen Volkes in der Hand des ultra- montanen Centrums, unter der Leitung des römiſchen Papismus, der ſein ärgſter und gefährlichſter Feind iſt. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unſere Staatsordnung kann nur dann beſſer werden, wenn ſie ſich von den Feſſeln der Kirche befreit, und wenn ſie durch allgemeine naturwiſſenſchaftliche Bildung die Welt- und Menſchen- *) Vergl. A. Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers. 1875.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/26>, abgerufen am 24.04.2024.