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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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I. Zustand der modernen Staatsordnung.
bestem Gewissen urtheilen und nur menschlich irren. Dann er-
klären sich wohl die meisten Irrthümer durch mangelhafte Vor-
bildung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die
Juristen die höchste Bildung besitzen; werden sie ja doch gerade
deßhalb bei der Besetzung der verschiedensten Aemter vorgezogen.
Allein diese vielgerühmte "juristische Bildung" ist größtentheils
eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt
ihrer Thätigkeit, den menschlichen Organismus, und seine wich-
tigste Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich
kennen; das beweisen z. B. die wunderlichen Ansichten von
"Willensfreiheit, Verantwortung" u. s. w., denen wir täglich
begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juristen versicherte,
daß die winzige kugelige Eizelle, aus der sich jeder Mensch ent-
wickelt, lebendig sei, ebenso mit Leben begabt, wie der Embryo
von zwei oder sieben oder neun Monaten, fand ich nur un-
gläubiges Lächeln. Den meisten Studirenden der Jurisprudenz
fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Psychologie und
Entwickelungsgeschichte zu treiben, die ersten Vorbedin-
gungen für richtige Beurtheilung des Menschen-Wesens. Freilich
bleibt dazu auch "keine Zeit"; diese wird leider nur zu sehr
durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch
genommen, sowie das "veredelnde" Mensuren-Wesen; der Rest
der kostbaren Studien-Zeit aber ist nothwendig, um die Hunderte
von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß
den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur-
Staate befähigt.

Unsere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik
wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen, da die unerfreulichen
Zustände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann
täglich fühlbar sind. Zum großen Theile erklären sich deren
Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen
sind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne

I. Zuſtand der modernen Staatsordnung.
beſtem Gewiſſen urtheilen und nur menſchlich irren. Dann er-
klären ſich wohl die meiſten Irrthümer durch mangelhafte Vor-
bildung. Freilich herrſcht vielfach die Anſicht, daß gerade die
Juriſten die höchſte Bildung beſitzen; werden ſie ja doch gerade
deßhalb bei der Beſetzung der verſchiedenſten Aemter vorgezogen.
Allein dieſe vielgerühmte „juriſtiſche Bildung“ iſt größtentheils
eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt
ihrer Thätigkeit, den menſchlichen Organismus, und ſeine wich-
tigſte Funktion, die Seele, lernen unſere Juriſten nur oberflächlich
kennen; das beweiſen z. B. die wunderlichen Anſichten von
„Willensfreiheit, Verantwortung“ u. ſ. w., denen wir täglich
begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juriſten verſicherte,
daß die winzige kugelige Eizelle, aus der ſich jeder Menſch ent-
wickelt, lebendig ſei, ebenſo mit Leben begabt, wie der Embryo
von zwei oder ſieben oder neun Monaten, fand ich nur un-
gläubiges Lächeln. Den meiſten Studirenden der Jurisprudenz
fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Pſychologie und
Entwickelungsgeſchichte zu treiben, die erſten Vorbedin-
gungen für richtige Beurtheilung des Menſchen-Weſens. Freilich
bleibt dazu auch „keine Zeit“; dieſe wird leider nur zu ſehr
durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anſpruch
genommen, ſowie das „veredelnde“ Menſuren-Weſen; der Reſt
der koſtbaren Studien-Zeit aber iſt nothwendig, um die Hunderte
von Paragraphen der Geſetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß
den Juriſten zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur-
Staate befähigt.

Unſere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik
wollen wir hier nur ganz flüchtig ſtreifen, da die unerfreulichen
Zuſtände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann
täglich fühlbar ſind. Zum großen Theile erklären ſich deren
Mängel daraus, daß die meiſten Staatsbeamten eben Juriſten
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[9/0025] I. Zuſtand der modernen Staatsordnung. beſtem Gewiſſen urtheilen und nur menſchlich irren. Dann er- klären ſich wohl die meiſten Irrthümer durch mangelhafte Vor- bildung. Freilich herrſcht vielfach die Anſicht, daß gerade die Juriſten die höchſte Bildung beſitzen; werden ſie ja doch gerade deßhalb bei der Beſetzung der verſchiedenſten Aemter vorgezogen. Allein dieſe vielgerühmte „juriſtiſche Bildung“ iſt größtentheils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt ihrer Thätigkeit, den menſchlichen Organismus, und ſeine wich- tigſte Funktion, die Seele, lernen unſere Juriſten nur oberflächlich kennen; das beweiſen z. B. die wunderlichen Anſichten von „Willensfreiheit, Verantwortung“ u. ſ. w., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juriſten verſicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der ſich jeder Menſch ent- wickelt, lebendig ſei, ebenſo mit Leben begabt, wie der Embryo von zwei oder ſieben oder neun Monaten, fand ich nur un- gläubiges Lächeln. Den meiſten Studirenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Pſychologie und Entwickelungsgeſchichte zu treiben, die erſten Vorbedin- gungen für richtige Beurtheilung des Menſchen-Weſens. Freilich bleibt dazu auch „keine Zeit“; dieſe wird leider nur zu ſehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anſpruch genommen, ſowie das „veredelnde“ Menſuren-Weſen; der Reſt der koſtbaren Studien-Zeit aber iſt nothwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Geſetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß den Juriſten zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur- Staate befähigt. Unſere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig ſtreifen, da die unerfreulichen Zuſtände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann täglich fühlbar ſind. Zum großen Theile erklären ſich deren Mängel daraus, daß die meiſten Staatsbeamten eben Juriſten ſind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/25>, abgerufen am 19.04.2024.