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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Ursprung des Athanismus. XI.
daß dasselbe überhaupt einen wesentlichen Grundbestandtheil jeder
geläuterten Religion bilde. Das ist durchaus nicht der Fall!
Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele fehlt vollständig
den meisten höher entwickelten orientalischen Religionen; er fehlt
dem Buddhismus, der noch heute über 30 Procent der ge-
sammten menschlichen Bevölkerung der Erde beherrscht; er fehlt
ebenso der alten Volks-Religion der Chinesen wie der refor-
mirten, später an deren Stelle getretenen Religion des Con-
fucius;
und, was das Wichtigste ist, er fehlt der älteren und
reineren jüdischen Religion; weder in den fünf Büchern Moses
noch in jenen älteren Schriften des Alten Testamentes, welche
vor dem babylonischen Exil geschrieben wurden, ist die Lehre
von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.

Entstehung des Unsterblichkeits-Glaubens. Die mystische
Vorstellung, daß die Seele des Menschen nach seinem Tode fort-
dauere und unsterblich weiterlebe, ist sicher polyphyletisch
entstanden; sie fehlte dem ältesten, schon mit Sprache begabten
Urmenschen (dem hypothetischen Homo primigenius Asiens)
gewiß ebenso wie seinen Vorfahren, dem Pithecanthropus und
Prothylobates, und wie seinen modernen, wenigst entwickelten
Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien
und anderen, weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erst bei
zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben
und Tod, über Schlaf und Traum entwickelten sich bei ver-
schiedenen älteren Menschen-Rassen -- unabhängig von einander --
mystische Vorstellungen über die dualistische Komposition unseres
Organismus. Sehr verschiedene Motive werden bei diesem poly-
phyletischen Vorgange zusammengewirkt haben: Ahnen-Kultus,
Verwandten-Liebe, Lebenslust und Wunsch der Lebens-Verlänge-
rung, Hoffnung auf bessere Lebens-Verhältnisse im Jenseits,
Hoffnung auf Belohnung der guten und Bestrafung der schlechten
Thaten u. s. w. Die vergleichende Psychologie hat uns neuer-

Urſprung des Athanismus. XI.
daß dasſelbe überhaupt einen weſentlichen Grundbeſtandtheil jeder
geläuterten Religion bilde. Das iſt durchaus nicht der Fall!
Der Glaube an die Unſterblichkeit der Seele fehlt vollſtändig
den meiſten höher entwickelten orientaliſchen Religionen; er fehlt
dem Buddhismus, der noch heute über 30 Procent der ge-
ſammten menſchlichen Bevölkerung der Erde beherrſcht; er fehlt
ebenſo der alten Volks-Religion der Chineſen wie der refor-
mirten, ſpäter an deren Stelle getretenen Religion des Con-
fucius;
und, was das Wichtigſte iſt, er fehlt der älteren und
reineren jüdiſchen Religion; weder in den fünf Büchern Moſes
noch in jenen älteren Schriften des Alten Teſtamentes, welche
vor dem babyloniſchen Exil geſchrieben wurden, iſt die Lehre
von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.

Entſtehung des Unſterblichkeits-Glaubens. Die myſtiſche
Vorſtellung, daß die Seele des Menſchen nach ſeinem Tode fort-
dauere und unſterblich weiterlebe, iſt ſicher polyphyletiſch
entſtanden; ſie fehlte dem älteſten, ſchon mit Sprache begabten
Urmenſchen (dem hypothetiſchen Homo primigeniuſ Aſiens)
gewiß ebenſo wie ſeinen Vorfahren, dem Pithecanthropuſ und
Prothylobateſ, und wie ſeinen modernen, wenigſt entwickelten
Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien
und anderen, weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erſt bei
zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben
und Tod, über Schlaf und Traum entwickelten ſich bei ver-
ſchiedenen älteren Menſchen-Raſſen — unabhängig von einander —
myſtiſche Vorſtellungen über die dualiſtiſche Kompoſition unſeres
Organismus. Sehr verſchiedene Motive werden bei dieſem poly-
phyletiſchen Vorgange zuſammengewirkt haben: Ahnen-Kultus,
Verwandten-Liebe, Lebensluſt und Wunſch der Lebens-Verlänge-
rung, Hoffnung auf beſſere Lebens-Verhältniſſe im Jenſeits,
Hoffnung auf Belohnung der guten und Beſtrafung der ſchlechten
Thaten u. ſ. w. Die vergleichende Pſychologie hat uns neuer-

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[226/0242] Urſprung des Athanismus. XI. daß dasſelbe überhaupt einen weſentlichen Grundbeſtandtheil jeder geläuterten Religion bilde. Das iſt durchaus nicht der Fall! Der Glaube an die Unſterblichkeit der Seele fehlt vollſtändig den meiſten höher entwickelten orientaliſchen Religionen; er fehlt dem Buddhismus, der noch heute über 30 Procent der ge- ſammten menſchlichen Bevölkerung der Erde beherrſcht; er fehlt ebenſo der alten Volks-Religion der Chineſen wie der refor- mirten, ſpäter an deren Stelle getretenen Religion des Con- fucius; und, was das Wichtigſte iſt, er fehlt der älteren und reineren jüdiſchen Religion; weder in den fünf Büchern Moſes noch in jenen älteren Schriften des Alten Teſtamentes, welche vor dem babyloniſchen Exil geſchrieben wurden, iſt die Lehre von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden. Entſtehung des Unſterblichkeits-Glaubens. Die myſtiſche Vorſtellung, daß die Seele des Menſchen nach ſeinem Tode fort- dauere und unſterblich weiterlebe, iſt ſicher polyphyletiſch entſtanden; ſie fehlte dem älteſten, ſchon mit Sprache begabten Urmenſchen (dem hypothetiſchen Homo primigeniuſ Aſiens) gewiß ebenſo wie ſeinen Vorfahren, dem Pithecanthropuſ und Prothylobateſ, und wie ſeinen modernen, wenigſt entwickelten Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien und anderen, weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erſt bei zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben und Tod, über Schlaf und Traum entwickelten ſich bei ver- ſchiedenen älteren Menſchen-Raſſen — unabhängig von einander — myſtiſche Vorſtellungen über die dualiſtiſche Kompoſition unſeres Organismus. Sehr verſchiedene Motive werden bei dieſem poly- phyletiſchen Vorgange zuſammengewirkt haben: Ahnen-Kultus, Verwandten-Liebe, Lebensluſt und Wunſch der Lebens-Verlänge- rung, Hoffnung auf beſſere Lebens-Verhältniſſe im Jenſeits, Hoffnung auf Belohnung der guten und Beſtrafung der ſchlechten Thaten u. ſ. w. Die vergleichende Pſychologie hat uns neuer-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/242>, abgerufen am 23.04.2024.