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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Sekundärer Thanatismus. XI.
Mangel des Immortalitäts-Glaubens erst spät entstanden; er
ist erst die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über "Leben
und Tod", also ein Produkt echter und unabhängiger philo-
sophischer Reflexion. Als solcher tritt er uns schon im sechsten
Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ionischen Natur-
philosophen entgegen, später bei den Gründern der alten mate-
rialistischen Philosophie, bei Demokritos und Empedokles,
aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und
Plinius, am meisten durchgebildet bei Lucretius Carus.
Als dann nach dem Untergange des klassischen Alterthums das
Christenthum sich ausbreitete und mit ihm der Athanismus, als
einer seiner wichtigsten Glaubens-Artikel, die Weltherrschaft ge-
wann, erlangte mit anderen Formen des Aberglaubens auch der-
jenige an die persönliche Unsterblichkeit die höchste Bedeutung.

Während der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters
wagte begreiflicher Weise nur selten ein kühner Freidenker seine
abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beispiele von Galilei,
von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philo-
sophen, welche von den "Nachfolgern Christi" der Tortur und
dem Scheiterhaufen überliefert wurden, schreckten genügend jedes
freie Bekenntniß ab. Dieses wurde erst wieder möglich, nachdem
die Reformation und die Renaissance die Allmacht des Papismus
gebrochen hatten. Die Geschichte der neueren Philosophie zeigt
die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menschliche
Vernunft dem Aberglauben der Unsterblichkeit zu entrinnen ver-
suchte. Immerhin verlieh demselben trotzdem die enge Ver-
knüpfung mit dem christlichen Dogma auch in den freieren
protestantischen Kreisen solche Macht, daß selbst die meisten
überzeugten Freidenker ihre Meinung still für sich behielten. Nur
selten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung
von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei
zu bekennen. Besonders geschah dies in der zweiten Hälfte des

Sekundärer Thanatismus. XI.
Mangel des Immortalitäts-Glaubens erſt ſpät entſtanden; er
iſt erſt die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über „Leben
und Tod“, alſo ein Produkt echter und unabhängiger philo-
ſophiſcher Reflexion. Als ſolcher tritt er uns ſchon im ſechſten
Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ioniſchen Natur-
philoſophen entgegen, ſpäter bei den Gründern der alten mate-
rialiſtiſchen Philoſophie, bei Demokritos und Empedokles,
aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und
Plinius, am meiſten durchgebildet bei Lucretius Carus.
Als dann nach dem Untergange des klaſſiſchen Alterthums das
Chriſtenthum ſich ausbreitete und mit ihm der Athanismus, als
einer ſeiner wichtigſten Glaubens-Artikel, die Weltherrſchaft ge-
wann, erlangte mit anderen Formen des Aberglaubens auch der-
jenige an die perſönliche Unſterblichkeit die höchſte Bedeutung.

Während der langen Geiſtesnacht des chriſtlichen Mittelalters
wagte begreiflicher Weiſe nur ſelten ein kühner Freidenker ſeine
abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beiſpiele von Galilei,
von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philo-
ſophen, welche von den „Nachfolgern Chriſti“ der Tortur und
dem Scheiterhaufen überliefert wurden, ſchreckten genügend jedes
freie Bekenntniß ab. Dieſes wurde erſt wieder möglich, nachdem
die Reformation und die Renaiſſance die Allmacht des Papismus
gebrochen hatten. Die Geſchichte der neueren Philoſophie zeigt
die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menſchliche
Vernunft dem Aberglauben der Unſterblichkeit zu entrinnen ver-
ſuchte. Immerhin verlieh demſelben trotzdem die enge Ver-
knüpfung mit dem chriſtlichen Dogma auch in den freieren
proteſtantiſchen Kreiſen ſolche Macht, daß ſelbſt die meiſten
überzeugten Freidenker ihre Meinung ſtill für ſich behielten. Nur
ſelten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung
von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei
zu bekennen. Beſonders geſchah dies in der zweiten Hälfte des

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[224/0240] Sekundärer Thanatismus. XI. Mangel des Immortalitäts-Glaubens erſt ſpät entſtanden; er iſt erſt die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über „Leben und Tod“, alſo ein Produkt echter und unabhängiger philo- ſophiſcher Reflexion. Als ſolcher tritt er uns ſchon im ſechſten Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ioniſchen Natur- philoſophen entgegen, ſpäter bei den Gründern der alten mate- rialiſtiſchen Philoſophie, bei Demokritos und Empedokles, aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und Plinius, am meiſten durchgebildet bei Lucretius Carus. Als dann nach dem Untergange des klaſſiſchen Alterthums das Chriſtenthum ſich ausbreitete und mit ihm der Athanismus, als einer ſeiner wichtigſten Glaubens-Artikel, die Weltherrſchaft ge- wann, erlangte mit anderen Formen des Aberglaubens auch der- jenige an die perſönliche Unſterblichkeit die höchſte Bedeutung. Während der langen Geiſtesnacht des chriſtlichen Mittelalters wagte begreiflicher Weiſe nur ſelten ein kühner Freidenker ſeine abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beiſpiele von Galilei, von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philo- ſophen, welche von den „Nachfolgern Chriſti“ der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden, ſchreckten genügend jedes freie Bekenntniß ab. Dieſes wurde erſt wieder möglich, nachdem die Reformation und die Renaiſſance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geſchichte der neueren Philoſophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menſchliche Vernunft dem Aberglauben der Unſterblichkeit zu entrinnen ver- ſuchte. Immerhin verlieh demſelben trotzdem die enge Ver- knüpfung mit dem chriſtlichen Dogma auch in den freieren proteſtantiſchen Kreiſen ſolche Macht, daß ſelbſt die meiſten überzeugten Freidenker ihre Meinung ſtill für ſich behielten. Nur ſelten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei zu bekennen. Beſonders geſchah dies in der zweiten Hälfte des

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/240>, abgerufen am 19.04.2024.