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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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IX. Gewebe-Seele der Gastrula.
Spongien bis zum Menschen hinauf) im Beginne ihrer Keimes-
Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gasträa-Theorie
(1872) gezeigt habe, entsteht bei sämmtlichen Gewebethieren zu-
nächst aus der vorher betrachteten Blastula (S. 180) eine
höchst charakteristische Keimform, die Gastrula. Die Keimhaut
(Blastoderma), welche die Wand der Hohlkugel darstellt, bildet
an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und diese wird
bald zu einer so tiefen Einstülpung, daß der innere Hohlraum
der Keimblase verschwindet. Die eingestülpte (innere) Hälfte der
Keimhaut legt sich an die äußere (nicht eingestülpte) Hälfte innen
an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt
(Ektoderm, Epiblast), erstere dagegen das Darmblatt oder
innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblast). Der neu entstandene
Hohlraum des becherförmigen Körpers ist die verdauende Magen-
höhle, der Urdarm (Progaster), seine Oeffnung der Urmund
(Prostoma)*). Das Hautblatt oder Ektoderm ist bei allen
Metazoen das ursprüngliche "Seelenorgan"; denn aus ihm
entwickeln sich bei sämmtlichen Nerventhieren nicht nur die äußere
Hautdecke und die Sinnesorgane, sondern auch das Nervensystem.
Bei den Gasträaden, welche letzteres noch nicht besitzen, sind alle
Zellen, welche die einfache Epithelschicht des Ektoderm zusammen-
setzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die
Gewebe-Seele zeigt sich hier in einfachster Form.

Dieselbe primitive Bildung scheinen auch noch die Plato-
darien
zu besitzen, die ältesten und einfachsten Formen der
Plattenthiere (Platodes). Einige von diesen Kryptocölen
(Convoluta u. s. w.) haben noch kein gesondertes Nervensystem,
während dasselbe bei ihren nächstverwandten Epigonen, den
Strudelwürmern (Turbellaria), bereits von der Hautdecke
sich abgesondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.

*) Vergl. Anthropogenie S. 161, 497: Nat. Schöpfgsg. 1898, S. 300.

IX. Gewebe-Seele der Gaſtrula.
Spongien bis zum Menſchen hinauf) im Beginne ihrer Keimes-
Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gaſträa-Theorie
(1872) gezeigt habe, entſteht bei ſämmtlichen Gewebethieren zu-
nächſt aus der vorher betrachteten Blaſtula (S. 180) eine
höchſt charakteriſtiſche Keimform, die Gaſtrula. Die Keimhaut
(Blaſtoderma), welche die Wand der Hohlkugel darſtellt, bildet
an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und dieſe wird
bald zu einer ſo tiefen Einſtülpung, daß der innere Hohlraum
der Keimblaſe verſchwindet. Die eingeſtülpte (innere) Hälfte der
Keimhaut legt ſich an die äußere (nicht eingeſtülpte) Hälfte innen
an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt
(Ektoderm, Epiblaſt), erſtere dagegen das Darmblatt oder
innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblaſt). Der neu entſtandene
Hohlraum des becherförmigen Körpers iſt die verdauende Magen-
höhle, der Urdarm (Progaſter), ſeine Oeffnung der Urmund
(Proſtoma)*). Das Hautblatt oder Ektoderm iſt bei allen
Metazoen das urſprüngliche „Seelenorgan“; denn aus ihm
entwickeln ſich bei ſämmtlichen Nerventhieren nicht nur die äußere
Hautdecke und die Sinnesorgane, ſondern auch das Nervenſyſtem.
Bei den Gaſträaden, welche letzteres noch nicht beſitzen, ſind alle
Zellen, welche die einfache Epithelſchicht des Ektoderm zuſammen-
ſetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die
Gewebe-Seele zeigt ſich hier in einfachſter Form.

Dieſelbe primitive Bildung ſcheinen auch noch die Plato-
darien
zu beſitzen, die älteſten und einfachſten Formen der
Plattenthiere (Platodeſ). Einige von dieſen Kryptocölen
(Convoluta u. ſ. w.) haben noch kein geſondertes Nervenſyſtem,
während dasſelbe bei ihren nächſtverwandten Epigonen, den
Strudelwürmern (Turbellaria), bereits von der Hautdecke
ſich abgeſondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.

*) Vergl. Anthropogenie S. 161, 497: Nat. Schöpfgsg. 1898, S. 300.
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[185/0201] IX. Gewebe-Seele der Gaſtrula. Spongien bis zum Menſchen hinauf) im Beginne ihrer Keimes- Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gaſträa-Theorie (1872) gezeigt habe, entſteht bei ſämmtlichen Gewebethieren zu- nächſt aus der vorher betrachteten Blaſtula (S. 180) eine höchſt charakteriſtiſche Keimform, die Gaſtrula. Die Keimhaut (Blaſtoderma), welche die Wand der Hohlkugel darſtellt, bildet an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und dieſe wird bald zu einer ſo tiefen Einſtülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblaſe verſchwindet. Die eingeſtülpte (innere) Hälfte der Keimhaut legt ſich an die äußere (nicht eingeſtülpte) Hälfte innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt (Ektoderm, Epiblaſt), erſtere dagegen das Darmblatt oder innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblaſt). Der neu entſtandene Hohlraum des becherförmigen Körpers iſt die verdauende Magen- höhle, der Urdarm (Progaſter), ſeine Oeffnung der Urmund (Proſtoma) *). Das Hautblatt oder Ektoderm iſt bei allen Metazoen das urſprüngliche „Seelenorgan“; denn aus ihm entwickeln ſich bei ſämmtlichen Nerventhieren nicht nur die äußere Hautdecke und die Sinnesorgane, ſondern auch das Nervenſyſtem. Bei den Gaſträaden, welche letzteres noch nicht beſitzen, ſind alle Zellen, welche die einfache Epithelſchicht des Ektoderm zuſammen- ſetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die Gewebe-Seele zeigt ſich hier in einfachſter Form. Dieſelbe primitive Bildung ſcheinen auch noch die Plato- darien zu beſitzen, die älteſten und einfachſten Formen der Plattenthiere (Platodeſ). Einige von dieſen Kryptocölen (Convoluta u. ſ. w.) haben noch kein geſondertes Nervenſyſtem, während dasſelbe bei ihren nächſtverwandten Epigonen, den Strudelwürmern (Turbellaria), bereits von der Hautdecke ſich abgeſondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat. *) Vergl. Anthropogenie S. 161, 497: Nat. Schöpfgsg. 1898, S. 300.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/201>, abgerufen am 25.04.2024.