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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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IX. Stammesgeschichte der Seele.
Scheitelhirn wirbelloser Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt
uns die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Verma-
lien
. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende
Ontogenie, daß dieses einfache Seelenorgan aus der Zellenschicht
des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien
entstanden ist; bei diesen ältesten Plattenthieren, die noch kein
gesondertes Nerven-System besaßen, wirkt die äußere Hautdecke
als universales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch die ver-
gleichende Keimesgeschichte überzeugen wir uns endlich, daß diese
einfachsten Metazoen durch Gastrulation aus Blastäaden ent-
standen sind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache
Zellenschicht bildete, das Blastoderm; zugleich lernen wir durch
dieselbe mit Hülfe des biogenetischen Grundgesetzes verstehen, wie
diese Protozoen-Cönobien ursprünglich aus einfachsten einzelligen
Urthieren hervorgegangen sind.

Durch die kritische Deutung dieser verschiedenen Keim-
bildungen, deren Entstehung aus einander wir unmittelbar durch
mikroskopische Beobachtung verfolgen können, erhalten wir
mittelst unseres biogenetischen Grundgesetzes die wichtigsten Auf-
schlüsse über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte unseres
Seelenlebens; wir können deren zunächst acht unterscheiden:
1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellseele: Infuso-
rien
; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Ka-
kallakten;
3. älteste Metazoen mit Epithelial-Seele:
Platodarien
; 4. wirbellose Ahnen mit einfachem Scheitel-
hirn: Vermalien
; 5. schädellose Wirbelthiere mit einfachem
Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädelthiere mit
Gehirn (aus fünf Hirnblasen entstanden): Kranioten;
7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde:
Placentalien
; 8. höhere Menschen-Affen und Menschen, mit
Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen.
Unter diesen acht Hauptstufen in der Stammesgeschichte der

IX. Stammesgeſchichte der Seele.
Scheitelhirn wirbelloſer Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt
uns die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Verma-
lien
. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende
Ontogenie, daß dieſes einfache Seelenorgan aus der Zellenſchicht
des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien
entſtanden iſt; bei dieſen älteſten Plattenthieren, die noch kein
geſondertes Nerven-Syſtem beſaßen, wirkt die äußere Hautdecke
als univerſales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch die ver-
gleichende Keimesgeſchichte überzeugen wir uns endlich, daß dieſe
einfachſten Metazoen durch Gaſtrulation aus Blaſtäaden ent-
ſtanden ſind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache
Zellenſchicht bildete, das Blaſtoderm; zugleich lernen wir durch
dieſelbe mit Hülfe des biogenetiſchen Grundgeſetzes verſtehen, wie
dieſe Protozoen-Cönobien urſprünglich aus einfachſten einzelligen
Urthieren hervorgegangen ſind.

Durch die kritiſche Deutung dieſer verſchiedenen Keim-
bildungen, deren Entſtehung aus einander wir unmittelbar durch
mikroſkopiſche Beobachtung verfolgen können, erhalten wir
mittelſt unſeres biogenetiſchen Grundgeſetzes die wichtigſten Auf-
ſchlüſſe über die Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte unſeres
Seelenlebens; wir können deren zunächſt acht unterſcheiden:
1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellſeele: Infuſo-
rien
; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Ka-
kallakten;
3. älteſte Metazoen mit Epithelial-Seele:
Platodarien
; 4. wirbelloſe Ahnen mit einfachem Scheitel-
hirn: Vermalien
; 5. ſchädelloſe Wirbelthiere mit einfachem
Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädelthiere mit
Gehirn (aus fünf Hirnblaſen entſtanden): Kranioten;
7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde:
Placentalien
; 8. höhere Menſchen-Affen und Menſchen, mit
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[175/0191] IX. Stammesgeſchichte der Seele. Scheitelhirn wirbelloſer Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt uns die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Verma- lien. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende Ontogenie, daß dieſes einfache Seelenorgan aus der Zellenſchicht des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien entſtanden iſt; bei dieſen älteſten Plattenthieren, die noch kein geſondertes Nerven-Syſtem beſaßen, wirkt die äußere Hautdecke als univerſales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch die ver- gleichende Keimesgeſchichte überzeugen wir uns endlich, daß dieſe einfachſten Metazoen durch Gaſtrulation aus Blaſtäaden ent- ſtanden ſind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache Zellenſchicht bildete, das Blaſtoderm; zugleich lernen wir durch dieſelbe mit Hülfe des biogenetiſchen Grundgeſetzes verſtehen, wie dieſe Protozoen-Cönobien urſprünglich aus einfachſten einzelligen Urthieren hervorgegangen ſind. Durch die kritiſche Deutung dieſer verſchiedenen Keim- bildungen, deren Entſtehung aus einander wir unmittelbar durch mikroſkopiſche Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelſt unſeres biogenetiſchen Grundgeſetzes die wichtigſten Auf- ſchlüſſe über die Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte unſeres Seelenlebens; wir können deren zunächſt acht unterſcheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellſeele: Infuſo- rien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Ka- kallakten; 3. älteſte Metazoen mit Epithelial-Seele: Platodarien; 4. wirbelloſe Ahnen mit einfachem Scheitel- hirn: Vermalien; 5. ſchädelloſe Wirbelthiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädelthiere mit Gehirn (aus fünf Hirnblaſen entſtanden): Kranioten; 7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde: Placentalien; 8. höhere Menſchen-Affen und Menſchen, mit Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen. Unter dieſen acht Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/191>, abgerufen am 19.04.2024.