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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Seele der Geschlechtszellen.
Theil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper
der beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelen-
keim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen
Samenthierchen; indem diese beiden Keimzellen verschmelzen,
wachsen auch die beiden sie begleitenden Seelen zur Bildung
einer neuen immateriellen Seele zusammen.

Physiologie des Seelen-Ursprungs. Obwohl die an-
geführten Dichtungen über die Entstehung der einzelnen Menschen-
Seele heute noch sehr weite Verbreitung und Anerkennung besitzen,
ist dennoch ihr rein mythologischer Charakter jetzt sicher nach-
gewiesen. Die hochinteressanten und bewunderungswürdigen
Untersuchungen, welche im Laufe der letzten 25 Jahre über die
feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies
ausgeführt worden sind, haben ergeben, daß diese mysteriösen
Erscheinungen sämmlich in das Gebiet der Zellen-Physio-
logie
gehören (vergl. oben S. 55). Sowohl die weibliche
Keim-Anlage, das Ei, als der männliche Befruchtungs-Körper,
das Spermium oder Samen-Element, sind einfache Zellen.
Diese lebendigen Zellen besitzen eine Summe von physiologischen
Eigenschaften, welche wir unter dem Begriff der Zellseele
zusammenfassen, ebenso wie bei den permanent einzelligen Protisten
(vgl. S. 56). Beiderlei Geschlechts-Zellen besitzen das Vermögen
der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder
das "Ur-Ei" bewegt sich nach Art einer Amöbe; die sehr kleinen
Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem
Tropfen des schleimartigen männlichen Samens (Sperma) sich
finden, sind Geißelzellen und bewegen sich mittelst ihrer schwingen-
den Geißel ebenso lebhaft schwimmend im Sperma umher wie
gewöhnliche Geißel-Infusorien (Flagellaten).

Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung
zusammentreffen, oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B.
bei Fischen) in Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegen-

VIII. Seele der Geſchlechtszellen.
Theil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper
der beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelen-
keim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen
Samenthierchen; indem dieſe beiden Keimzellen verſchmelzen,
wachſen auch die beiden ſie begleitenden Seelen zur Bildung
einer neuen immateriellen Seele zuſammen.

Phyſiologie des Seelen-Urſprungs. Obwohl die an-
geführten Dichtungen über die Entſtehung der einzelnen Menſchen-
Seele heute noch ſehr weite Verbreitung und Anerkennung beſitzen,
iſt dennoch ihr rein mythologiſcher Charakter jetzt ſicher nach-
gewieſen. Die hochintereſſanten und bewunderungswürdigen
Unterſuchungen, welche im Laufe der letzten 25 Jahre über die
feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies
ausgeführt worden ſind, haben ergeben, daß dieſe myſteriöſen
Erſcheinungen ſämmlich in das Gebiet der Zellen-Phyſio-
logie
gehören (vergl. oben S. 55). Sowohl die weibliche
Keim-Anlage, das Ei, als der männliche Befruchtungs-Körper,
das Spermium oder Samen-Element, ſind einfache Zellen.
Dieſe lebendigen Zellen beſitzen eine Summe von phyſiologiſchen
Eigenſchaften, welche wir unter dem Begriff der Zellſeele
zuſammenfaſſen, ebenſo wie bei den permanent einzelligen Protiſten
(vgl. S. 56). Beiderlei Geſchlechts-Zellen beſitzen das Vermögen
der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder
das „Ur-Ei“ bewegt ſich nach Art einer Amöbe; die ſehr kleinen
Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem
Tropfen des ſchleimartigen männlichen Samens (Sperma) ſich
finden, ſind Geißelzellen und bewegen ſich mittelſt ihrer ſchwingen-
den Geißel ebenſo lebhaft ſchwimmend im Sperma umher wie
gewöhnliche Geißel-Infuſorien (Flagellaten).

Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung
zuſammentreffen, oder wenn ſie durch künſtliche Befruchtung (z. B.
bei Fiſchen) in Berührung gebracht werden, ziehen ſie ſich gegen-

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[159/0175] VIII. Seele der Geſchlechtszellen. Theil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelen- keim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen Samenthierchen; indem dieſe beiden Keimzellen verſchmelzen, wachſen auch die beiden ſie begleitenden Seelen zur Bildung einer neuen immateriellen Seele zuſammen. Phyſiologie des Seelen-Urſprungs. Obwohl die an- geführten Dichtungen über die Entſtehung der einzelnen Menſchen- Seele heute noch ſehr weite Verbreitung und Anerkennung beſitzen, iſt dennoch ihr rein mythologiſcher Charakter jetzt ſicher nach- gewieſen. Die hochintereſſanten und bewunderungswürdigen Unterſuchungen, welche im Laufe der letzten 25 Jahre über die feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies ausgeführt worden ſind, haben ergeben, daß dieſe myſteriöſen Erſcheinungen ſämmlich in das Gebiet der Zellen-Phyſio- logie gehören (vergl. oben S. 55). Sowohl die weibliche Keim-Anlage, das Ei, als der männliche Befruchtungs-Körper, das Spermium oder Samen-Element, ſind einfache Zellen. Dieſe lebendigen Zellen beſitzen eine Summe von phyſiologiſchen Eigenſchaften, welche wir unter dem Begriff der Zellſeele zuſammenfaſſen, ebenſo wie bei den permanent einzelligen Protiſten (vgl. S. 56). Beiderlei Geſchlechts-Zellen beſitzen das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder das „Ur-Ei“ bewegt ſich nach Art einer Amöbe; die ſehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem Tropfen des ſchleimartigen männlichen Samens (Sperma) ſich finden, ſind Geißelzellen und bewegen ſich mittelſt ihrer ſchwingen- den Geißel ebenſo lebhaft ſchwimmend im Sperma umher wie gewöhnliche Geißel-Infuſorien (Flagellaten). Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung zuſammentreffen, oder wenn ſie durch künſtliche Befruchtung (z. B. bei Fiſchen) in Berührung gebracht werden, ziehen ſie ſich gegen-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/175>, abgerufen am 23.04.2024.