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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Problem der Willensfreiheit. VII.
der Geistes- und Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicher
Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die
Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. -- Vielleicht
giebt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über
welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im
Staube der Bibliotheken modern." -- Diese Wichtigkeit der
Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber-
zeugung von der "Willensfreiheit" unmittelbar neben diejenige
von der "Unsterblichkeit der Seele" und neben den "Glauben
an Gott" stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als
die drei unentbehrlichen "Postulate der praktischen Ver-
nunft
", nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die
Realität derselben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu
beweisen ist!

Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst ver-
worrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die That-
sache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen
Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen ver-
neint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich
noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen
Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator
Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die
bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach
im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die
christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen
Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination un-
vereinbar ist; Gott, der Allmächtige und Allwissende, sah und
wollte Alles von Ewigkeit voraus; also bestimmte er auch das
Handeln der Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen
handelte, anders, als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre
Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben
Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die

Problem der Willensfreiheit. VII.
der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher
Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die
Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht
giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über
welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im
Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der
Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber-
zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige
von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben
an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als
die drei unentbehrlichen „Poſtulate der praktiſchen Ver-
nunft
“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die
Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu
beweiſen iſt!

Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver-
worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That-
ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen
Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver-
neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich
noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen
Kirche, wie der Kirchenvater Auguſtin und der Reformator
Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die
bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach
im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die
chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten
Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un-
vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und
wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das
Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen
handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre
Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben
Sinne war auch Leibniz unbedingter Determiniſt. Die

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[150/0166] Problem der Willensfreiheit. VII. der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber- zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen „Poſtulate der praktiſchen Ver- nunft“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweiſen iſt! Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver- worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That- ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver- neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen Kirche, wie der Kirchenvater Auguſtin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un- vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determiniſt. Die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/166>, abgerufen am 25.04.2024.