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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Stufenleiter der Vernunft. VII.
worden, daß diese "altera natura" unbewußt wirkt und auch
bei der Vererbung auf die Nachkommen als "angeboren" erscheint.
Das ursprünglich mit diesen besonderen Instinkten der höheren
Thiere und des Menschen verknüpfte Bewußtsein und Nachdenken
ist im Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie
bei der "abgekürzten Vererbung"). Die unbewußten zweck-
mäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunsttriebe)
erscheinen jetzt als angeborene Instinkte. So ist auch die Ent-
stehung der angeborenen "Erkenntnisse a priori" beim Menschen
zu erklären, welche ursprünglich bei seinen Voreltern
a posteriori sich empirisch entwickelt hatten *).

Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem
Seelenleben der Thiere unbekannten psychologischen Betrachtungen,
welche nur im Menschen eine "wahre Seele" anerkennen, wird
auch ihm allein als höchstes Gut die "Vernunft" und das
Bewußtsein zugeschrieben. Auch dieser triviale Irrthum (der
übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern spukt) ist durch die
vergleichende Psychologie der letzten vierzig Jahre gründlich
widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menschen
nächststehenden Säugethiere) besitzen ebenso gut Vernunft wie
der Mensch selbst, und innerhalb der Thierreihe ist ebenso eine
lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft
zu verfolgen wie innerhalb der Menschen-Reihe. Der Unter-
schied zwischen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck,
Darwin
und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines
Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer
als die graduelle Differenz zwischen der Vernunft dieser letzteren
und der "vernünftigsten" Säugethiere, der Menschenaffen
(Anthropomorpha) und selbst der Papstaffen Papiomorpha),
der Hunde und Elephanten. Auch dieser wichtige Satz ist durch

*) E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Neunte Aufl. 1898,
S. 29, 777.

Stufenleiter der Vernunft. VII.
worden, daß dieſe „altera natura“ unbewußt wirkt und auch
bei der Vererbung auf die Nachkommen als „angeboren“ erſcheint.
Das urſprünglich mit dieſen beſonderen Inſtinkten der höheren
Thiere und des Menſchen verknüpfte Bewußtſein und Nachdenken
iſt im Laufe der Zeit den Plaſtidulen verloren gegangen (wie
bei der „abgekürzten Vererbung“). Die unbewußten zweck-
mäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunſttriebe)
erſcheinen jetzt als angeborene Inſtinkte. So iſt auch die Ent-
ſtehung der angeborenen „Erkenntniſſe a priori“ beim Menſchen
zu erklären, welche urſprünglich bei ſeinen Voreltern
a poſteriori ſich empiriſch entwickelt hatten *).

Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem
Seelenleben der Thiere unbekannten pſychologiſchen Betrachtungen,
welche nur im Menſchen eine „wahre Seele“ anerkennen, wird
auch ihm allein als höchſtes Gut die „Vernunft“ und das
Bewußtſein zugeſchrieben. Auch dieſer triviale Irrthum (der
übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern ſpukt) iſt durch die
vergleichende Pſychologie der letzten vierzig Jahre gründlich
widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menſchen
nächſtſtehenden Säugethiere) beſitzen ebenſo gut Vernunft wie
der Menſch ſelbſt, und innerhalb der Thierreihe iſt ebenſo eine
lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft
zu verfolgen wie innerhalb der Menſchen-Reihe. Der Unter-
ſchied zwiſchen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck,
Darwin
und derjenigen des niederſten Naturmenſchen, eines
Wedda, Akka, Auſtralnegers und Patagoniers, iſt viel größer
als die graduelle Differenz zwiſchen der Vernunft dieſer letzteren
und der „vernünftigſten“ Säugethiere, der Menſchenaffen
(Anthropomorpha) und ſelbſt der Papſtaffen Papiomorpha),
der Hunde und Elephanten. Auch dieſer wichtige Satz iſt durch

*) E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Neunte Aufl. 1898,
S. 29, 777.
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[144/0160] Stufenleiter der Vernunft. VII. worden, daß dieſe „altera natura“ unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als „angeboren“ erſcheint. Das urſprünglich mit dieſen beſonderen Inſtinkten der höheren Thiere und des Menſchen verknüpfte Bewußtſein und Nachdenken iſt im Laufe der Zeit den Plaſtidulen verloren gegangen (wie bei der „abgekürzten Vererbung“). Die unbewußten zweck- mäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunſttriebe) erſcheinen jetzt als angeborene Inſtinkte. So iſt auch die Ent- ſtehung der angeborenen „Erkenntniſſe a priori“ beim Menſchen zu erklären, welche urſprünglich bei ſeinen Voreltern a poſteriori ſich empiriſch entwickelt hatten *). Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Thiere unbekannten pſychologiſchen Betrachtungen, welche nur im Menſchen eine „wahre Seele“ anerkennen, wird auch ihm allein als höchſtes Gut die „Vernunft“ und das Bewußtſein zugeſchrieben. Auch dieſer triviale Irrthum (der übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern ſpukt) iſt durch die vergleichende Pſychologie der letzten vierzig Jahre gründlich widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menſchen nächſtſtehenden Säugethiere) beſitzen ebenſo gut Vernunft wie der Menſch ſelbſt, und innerhalb der Thierreihe iſt ebenſo eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft zu verfolgen wie innerhalb der Menſchen-Reihe. Der Unter- ſchied zwiſchen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niederſten Naturmenſchen, eines Wedda, Akka, Auſtralnegers und Patagoniers, iſt viel größer als die graduelle Differenz zwiſchen der Vernunft dieſer letzteren und der „vernünftigſten“ Säugethiere, der Menſchenaffen (Anthropomorpha) und ſelbſt der Papſtaffen Papiomorpha), der Hunde und Elephanten. Auch dieſer wichtige Satz iſt durch *) E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Neunte Aufl. 1898, S. 29, 777.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/160>, abgerufen am 18.04.2024.