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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VII. Verkettung der Vorstellungen.
davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend
unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran
zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen u. s. w.
täglich vollziehen.

IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch be-
stimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Thieren
vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene
"innere Spiegelung", als die höchste Blüthe derselben
psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren
niederen thierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in
den Ganglien-Zellen abspielten.

Associon der Vorstellungen. Die Verkettung der
Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Association der Ideen
(oder kürzer Associon) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange
Skala von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Auch sie
ist wieder ursprünglich und ganz überwiegend unbewußt
("Instinkt"); nur bei den höheren Thierklassen wird sie allmählich
bewußt ("Vernunft"). Die psychischen Erzeugnisse dieser
"Ideen-Associon" sind äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt
eine sehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Ent-
wickelung von den einfachsten unbewußten Associonen der niedersten
Protisten bis zu den vollkommensten bewußten Ideen-Verkettungen
des Kulturmenschen hinauf. Auch die Einheit des Bewußt-
seins
bei letzteren wird als das höchste Ergebniß derselben
erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben
wird um so vollkommener, je mehr sich die normale Associon
unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt, und je naturgemäßer
dieselben durch die "Kritik der reinen Vernunft" geordnet
werden. Im Traume, wo diese Kritik fehlt, erfolgt oft die
Associon der reproducirten Vorstellungen in der konfusesten Form.
Aber auch im Schaffen der dichterischen Phantasie, welche
durch mannichfaltige Verkettung vorhandener Vorstellungen ganz

VII. Verkettung der Vorſtellungen.
davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tauſend
unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran
zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Eſſen u. ſ. w.
täglich vollziehen.

IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch be-
ſtimmte Gehirnzellen beim Menſchen und den höheren Thieren
vermittelt wird, erſcheint daher nur als eine ſpät entſtandene
innere Spiegelung“, als die höchſte Blüthe derſelben
pſychiſchen Vorſtellungs-Reproduktionen, welche bei unſeren
niederen thieriſchen Vorfahren ſich als unbewußte Vorgänge in
den Ganglien-Zellen abſpielten.

Aſſocion der Vorſtellungen. Die Verkettung der
Vorſtellungen, welche man gewöhnlich als Aſſociation der Ideen
(oder kürzer Aſſocion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange
Skala von den niederſten bis zu den höchſten Stufen. Auch ſie
iſt wieder urſprünglich und ganz überwiegend unbewußt
(„Inſtinkt“); nur bei den höheren Thierklaſſen wird ſie allmählich
bewußt („Vernunft“). Die pſychiſchen Erzeugniſſe dieſer
„Ideen-Aſſocion“ ſind äußerſt mannigfaltig; trotzdem aber führt
eine ſehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Ent-
wickelung von den einfachſten unbewußten Aſſocionen der niederſten
Protiſten bis zu den vollkommenſten bewußten Ideen-Verkettungen
des Kulturmenſchen hinauf. Auch die Einheit des Bewußt-
ſeins
bei letzteren wird als das höchſte Ergebniß derſelben
erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben
wird um ſo vollkommener, je mehr ſich die normale Aſſocion
unendlich zahlreicher Vorſtellungen ausdehnt, und je naturgemäßer
dieſelben durch die „Kritik der reinen Vernunft“ geordnet
werden. Im Traume, wo dieſe Kritik fehlt, erfolgt oft die
Aſſocion der reproducirten Vorſtellungen in der konfuſeſten Form.
Aber auch im Schaffen der dichteriſchen Phantaſie, welche
durch mannichfaltige Verkettung vorhandener Vorſtellungen ganz

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[141/0157] VII. Verkettung der Vorſtellungen. davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tauſend unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Eſſen u. ſ. w. täglich vollziehen. IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch be- ſtimmte Gehirnzellen beim Menſchen und den höheren Thieren vermittelt wird, erſcheint daher nur als eine ſpät entſtandene „innere Spiegelung“, als die höchſte Blüthe derſelben pſychiſchen Vorſtellungs-Reproduktionen, welche bei unſeren niederen thieriſchen Vorfahren ſich als unbewußte Vorgänge in den Ganglien-Zellen abſpielten. Aſſocion der Vorſtellungen. Die Verkettung der Vorſtellungen, welche man gewöhnlich als Aſſociation der Ideen (oder kürzer Aſſocion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Skala von den niederſten bis zu den höchſten Stufen. Auch ſie iſt wieder urſprünglich und ganz überwiegend unbewußt („Inſtinkt“); nur bei den höheren Thierklaſſen wird ſie allmählich bewußt („Vernunft“). Die pſychiſchen Erzeugniſſe dieſer „Ideen-Aſſocion“ ſind äußerſt mannigfaltig; trotzdem aber führt eine ſehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Ent- wickelung von den einfachſten unbewußten Aſſocionen der niederſten Protiſten bis zu den vollkommenſten bewußten Ideen-Verkettungen des Kulturmenſchen hinauf. Auch die Einheit des Bewußt- ſeins bei letzteren wird als das höchſte Ergebniß derſelben erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben wird um ſo vollkommener, je mehr ſich die normale Aſſocion unendlich zahlreicher Vorſtellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieſelben durch die „Kritik der reinen Vernunft“ geordnet werden. Im Traume, wo dieſe Kritik fehlt, erfolgt oft die Aſſocion der reproducirten Vorſtellungen in der konfuſeſten Form. Aber auch im Schaffen der dichteriſchen Phantaſie, welche durch mannichfaltige Verkettung vorhandener Vorſtellungen ganz

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/157>, abgerufen am 19.04.2024.