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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Bewußtes und unbewußtes Gedächtniß. VII.
Erblichkeit ist das Gedächtniß der Plastidule, hin-
gegen die Variabilität ist die Fassungskraft der Plastidule" (a. a. O.
S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protisten
setzt sich zusammen aus dem molekularen Gedächtniß der Plasti-
dule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib sich
aufbaut. Für die erstaunlichen Leistungen des unbewußten Ge-
dächtnisses bei diesen einzelligen Protisten ist wohl keine That-
sache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regel-
mäßige Bildung ihrer komplizirten Schutzapparate, der Schalen
und Skelette; besonders die Diatomeen und Cosmarieen unter
den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter
den Protozoen liefern dafür eine Fülle von interessanten Bei-
spielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten vererbt sich
die specifische Skelettform relativ konstant und bezeugt die
Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtnisses.

II. Histonal-Gedächtniß. Ebenso interessante Beweise
für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Ge-
dächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen
Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen,
nervenlosen Thiere (Spongien u. s. w.). Diese zweite Stufe
erscheint als Reproduktion der Histonal-Vorstellungen,
jener Associon von Cellular-Vorstellungen, die schon mit der
Bildung von Cönobien bei den socialen Protisten beginnt.

III. Gleicher Weise ist die dritte Stufe, das "unbe-
wußte Gedächtniß
" derjenigen Thiere, die bereits ein Nerven-
system besitzen, als Reproduktion der entsprechenden "unbewußten
Vorstellungen" zu betrachten, welche in gewissen Ganglien-Zellen
aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Thieren ist wohl
alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menschen und
den höheren Thieren, denen wir Bewußtsein zuschreiben müssen,
sind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtnisses un-
gleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten;

Bewußtes und unbewußtes Gedächtniß. VII.
Erblichkeit iſt das Gedächtniß der Plaſtidule, hin-
gegen die Variabilität iſt die Faſſungskraft der Plaſtidule“ (a. a. O.
S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protiſten
ſetzt ſich zuſammen aus dem molekularen Gedächtniß der Plaſti-
dule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib ſich
aufbaut. Für die erſtaunlichen Leiſtungen des unbewußten Ge-
dächtniſſes bei dieſen einzelligen Protiſten iſt wohl keine That-
ſache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regel-
mäßige Bildung ihrer komplizirten Schutzapparate, der Schalen
und Skelette; beſonders die Diatomeen und Coſmarieen unter
den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter
den Protozoen liefern dafür eine Fülle von intereſſanten Bei-
ſpielen. In vielen tauſend Arten dieſer Protiſten vererbt ſich
die ſpecifiſche Skelettform relativ konſtant und bezeugt die
Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtniſſes.

II. Hiſtonal-Gedächtniß. Ebenſo intereſſante Beweiſe
für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Ge-
dächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen
Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen,
nervenloſen Thiere (Spongien u. ſ. w.). Dieſe zweite Stufe
erſcheint als Reproduktion der Hiſtonal-Vorſtellungen,
jener Aſſocion von Cellular-Vorſtellungen, die ſchon mit der
Bildung von Cönobien bei den ſocialen Protiſten beginnt.

III. Gleicher Weiſe iſt die dritte Stufe, das „unbe-
wußte Gedächtniß
“ derjenigen Thiere, die bereits ein Nerven-
ſyſtem beſitzen, als Reproduktion der entſprechenden „unbewußten
Vorſtellungen“ zu betrachten, welche in gewiſſen Ganglien-Zellen
aufgeſpeichert ſind. Bei den meiſten niederen Thieren iſt wohl
alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menſchen und
den höheren Thieren, denen wir Bewußtſein zuſchreiben müſſen,
ſind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtniſſes un-
gleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten;

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[140/0156] Bewußtes und unbewußtes Gedächtniß. VII. Erblichkeit iſt das Gedächtniß der Plaſtidule, hin- gegen die Variabilität iſt die Faſſungskraft der Plaſtidule“ (a. a. O. S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protiſten ſetzt ſich zuſammen aus dem molekularen Gedächtniß der Plaſti- dule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib ſich aufbaut. Für die erſtaunlichen Leiſtungen des unbewußten Ge- dächtniſſes bei dieſen einzelligen Protiſten iſt wohl keine That- ſache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regel- mäßige Bildung ihrer komplizirten Schutzapparate, der Schalen und Skelette; beſonders die Diatomeen und Coſmarieen unter den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von intereſſanten Bei- ſpielen. In vielen tauſend Arten dieſer Protiſten vererbt ſich die ſpecifiſche Skelettform relativ konſtant und bezeugt die Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtniſſes. II. Hiſtonal-Gedächtniß. Ebenſo intereſſante Beweiſe für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Ge- dächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenloſen Thiere (Spongien u. ſ. w.). Dieſe zweite Stufe erſcheint als Reproduktion der Hiſtonal-Vorſtellungen, jener Aſſocion von Cellular-Vorſtellungen, die ſchon mit der Bildung von Cönobien bei den ſocialen Protiſten beginnt. III. Gleicher Weiſe iſt die dritte Stufe, das „unbe- wußte Gedächtniß“ derjenigen Thiere, die bereits ein Nerven- ſyſtem beſitzen, als Reproduktion der entſprechenden „unbewußten Vorſtellungen“ zu betrachten, welche in gewiſſen Ganglien-Zellen aufgeſpeichert ſind. Bei den meiſten niederen Thieren iſt wohl alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menſchen und den höheren Thieren, denen wir Bewußtſein zuſchreiben müſſen, ſind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtniſſes un- gleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten;

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/156>, abgerufen am 25.04.2024.