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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VII. Reflexthat und Bewußtsein.
Protisten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carchesium),
beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zusammen-
gesetzte Reflexthat
. Die zahlreichen socialen Zellen, welche
diese Zellvereine oder Coenobien zusammensetzen, stehen immer
in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch faden-
förmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere
Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken
den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinsamer Kon-
traktion veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch
in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere.
Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der
Pflanzengewebe ganz isolirt neben einander stehen, sind jetzt
überall feine Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zell-
membranen durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in
materiellem und psychologischem Zusammenhang erhalten. So
erklärt es sich, daß die Erschütterung der empfindlichen Wurzel
von Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden
verursacht, sofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenstockes
überträgt und ihre zarten Fliederblätter zum Zusammenlegen,
die Blattstiele zum Herabsinken veranlaßt.

Reflexthat und Bewußtsein. Ein wichtiger und all-
gemeiner Charakter aller Reflex-Erscheinungen ist der Mangel
des Bewußtseins
. Aus Gründen, die wir im zehnten
Kapitel auseinandersetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtsein
nur beim Menschen und den höheren Thieren an, dagegen nicht
bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protisten;
demnach sind bei diesen letzteren alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe
aufzufassen, d. h. also überhaupt alle Bewegungen,
soweit sie nicht spontan und durch innere Ursachen veranlaßt
sind (impulsive und automatische Bewegungen) *). Anders verhält

*) Max Verworn, Psychophysiologische Protisten-Studien, 1889,
S. 135. 140.

VII. Reflexthat und Bewußtſein.
Protiſten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carcheſium),
beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zuſammen-
geſetzte Reflexthat
. Die zahlreichen ſocialen Zellen, welche
dieſe Zellvereine oder Coenobien zuſammenſetzen, ſtehen immer
in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch faden-
förmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere
Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken
den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinſamer Kon-
traktion veranlaſſen. Dieſer Zuſammenhang beſteht auch
in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere.
Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der
Pflanzengewebe ganz iſolirt neben einander ſtehen, ſind jetzt
überall feine Plasmafäden nachgewieſen, welche die dicken Zell-
membranen durchſetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in
materiellem und pſychologiſchem Zuſammenhang erhalten. So
erklärt es ſich, daß die Erſchütterung der empfindlichen Wurzel
von Mimoſa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden
verurſacht, ſofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenſtockes
überträgt und ihre zarten Fliederblätter zum Zuſammenlegen,
die Blattſtiele zum Herabſinken veranlaßt.

Reflexthat und Bewußtſein. Ein wichtiger und all-
gemeiner Charakter aller Reflex-Erſcheinungen iſt der Mangel
des Bewußtſeins
. Aus Gründen, die wir im zehnten
Kapitel auseinanderſetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtſein
nur beim Menſchen und den höheren Thieren an, dagegen nicht
bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protiſten;
demnach ſind bei dieſen letzteren alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe
aufzufaſſen, d. h. alſo überhaupt alle Bewegungen,
ſoweit ſie nicht ſpontan und durch innere Urſachen veranlaßt
ſind (impulſive und automatiſche Bewegungen) *). Anders verhält

*) Max Verworn, Pſychophyſiologiſche Protiſten-Studien, 1889,
S. 135. 140.
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[135/0151] VII. Reflexthat und Bewußtſein. Protiſten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carcheſium), beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zuſammen- geſetzte Reflexthat. Die zahlreichen ſocialen Zellen, welche dieſe Zellvereine oder Coenobien zuſammenſetzen, ſtehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch faden- förmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinſamer Kon- traktion veranlaſſen. Dieſer Zuſammenhang beſteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere. Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz iſolirt neben einander ſtehen, ſind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewieſen, welche die dicken Zell- membranen durchſetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und pſychologiſchem Zuſammenhang erhalten. So erklärt es ſich, daß die Erſchütterung der empfindlichen Wurzel von Mimoſa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verurſacht, ſofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenſtockes überträgt und ihre zarten Fliederblätter zum Zuſammenlegen, die Blattſtiele zum Herabſinken veranlaßt. Reflexthat und Bewußtſein. Ein wichtiger und all- gemeiner Charakter aller Reflex-Erſcheinungen iſt der Mangel des Bewußtſeins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel auseinanderſetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtſein nur beim Menſchen und den höheren Thieren an, dagegen nicht bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protiſten; demnach ſind bei dieſen letzteren alle Reiz-Bewegungen als Reflexe aufzufaſſen, d. h. alſo überhaupt alle Bewegungen, ſoweit ſie nicht ſpontan und durch innere Urſachen veranlaßt ſind (impulſive und automatiſche Bewegungen) *). Anders verhält *) Max Verworn, Pſychophyſiologiſche Protiſten-Studien, 1889, S. 135. 140.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/151>, abgerufen am 28.03.2024.