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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VI. Völker-Psychologie.
gleichung nicht auf Thier und Mensch im Allgemeinen zu be-
schränken, sondern auch die mannigfaltigen Abstufungen im
Seelenleben derselben neben einander zu stellen. Erst dadurch
gelangen wir zur klaren Erkenntniß der langen Stufenleiter
psychischer Entwickelung, welche ununterbrochen von den niedersten,
einzelligen Lebensformen bis zu den Säugethieren und an deren
Spitze bis zum Menschen hinauf führt. Aber innerhalb des
Menschengeschlechts selbst sind jene Abstufungen sehr beträchtlich
und die Verzweigungen des "Seelen-Stammbaums" höchst
mannigfaltig. Der psychische Unterschied zwischen dem rohesten
Naturmenschen der niedersten Stufe und dem vollkommensten
Kulturmenschen der höchsten Stufe ist kolossal, viel größer, als
gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntniß dieser
Thatsache hat besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts die "Anthropologie der Naturvölker" (Waitz)
einen lebhaften Aufschwung genommen und die vergleichende
Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Psychologie ge-
wonnen. Leider ist nur das massenhaft gesammelte Rohmaterial
dieser Wissenschaft noch nicht genügend kritisch durchgearbeitet.
Welche unklaren und mystischen Vorstellungen hier noch herrschen,
zeigt z. B. der sogenannte "Völkergedanke" des bekannten
Reisenden Adolf Bastian, der die größten Verdienste als
Begründer des Berliner "Museums für Völkerkunde" besitzt, aber
als fruchtbarer Schriftsteller ein wahres Monstrum von kritik-
loser Kompilation und konfuser Spekulation darstellt 4.

Ontogenetische Psychologie. Am meisten vernachlässigt
und am wenigsten angewendet unter allen Methoden der Seelen-
forschung ist bis auf den heutigen Tag die Entwickelungs-
geschichte der Seele
; und doch ist gerade dieser selten be-
tretene Pfad derjenige, der uns am kürzesten und sichersten durch
den dunkeln Urwald der psychologischen Vorurtheile, Dogmen
und Irrthümer zu der klaren Einsicht in viele der wichtigsten

VI. Völker-Pſychologie.
gleichung nicht auf Thier und Menſch im Allgemeinen zu be-
ſchränken, ſondern auch die mannigfaltigen Abſtufungen im
Seelenleben derſelben neben einander zu ſtellen. Erſt dadurch
gelangen wir zur klaren Erkenntniß der langen Stufenleiter
pſychiſcher Entwickelung, welche ununterbrochen von den niederſten,
einzelligen Lebensformen bis zu den Säugethieren und an deren
Spitze bis zum Menſchen hinauf führt. Aber innerhalb des
Menſchengeſchlechts ſelbſt ſind jene Abſtufungen ſehr beträchtlich
und die Verzweigungen des „Seelen-Stammbaums“ höchſt
mannigfaltig. Der pſychiſche Unterſchied zwiſchen dem roheſten
Naturmenſchen der niederſten Stufe und dem vollkommenſten
Kulturmenſchen der höchſten Stufe iſt koloſſal, viel größer, als
gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntniß dieſer
Thatſache hat beſonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts die „Anthropologie der Naturvölker“ (Waitz)
einen lebhaften Aufſchwung genommen und die vergleichende
Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Pſychologie ge-
wonnen. Leider iſt nur das maſſenhaft geſammelte Rohmaterial
dieſer Wiſſenſchaft noch nicht genügend kritiſch durchgearbeitet.
Welche unklaren und myſtiſchen Vorſtellungen hier noch herrſchen,
zeigt z. B. der ſogenannte „Völkergedanke“ des bekannten
Reiſenden Adolf Baſtian, der die größten Verdienſte als
Begründer des Berliner „Muſeums für Völkerkunde“ beſitzt, aber
als fruchtbarer Schriftſteller ein wahres Monſtrum von kritik-
loſer Kompilation und konfuſer Spekulation darſtellt 4.

Ontogenetiſche Pſychologie. Am meiſten vernachläſſigt
und am wenigſten angewendet unter allen Methoden der Seelen-
forſchung iſt bis auf den heutigen Tag die Entwickelungs-
geſchichte der Seele
; und doch iſt gerade dieſer ſelten be-
tretene Pfad derjenige, der uns am kürzeſten und ſicherſten durch
den dunkeln Urwald der pſychologiſchen Vorurtheile, Dogmen
und Irrthümer zu der klaren Einſicht in viele der wichtigſten

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[119/0135] VI. Völker-Pſychologie. gleichung nicht auf Thier und Menſch im Allgemeinen zu be- ſchränken, ſondern auch die mannigfaltigen Abſtufungen im Seelenleben derſelben neben einander zu ſtellen. Erſt dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntniß der langen Stufenleiter pſychiſcher Entwickelung, welche ununterbrochen von den niederſten, einzelligen Lebensformen bis zu den Säugethieren und an deren Spitze bis zum Menſchen hinauf führt. Aber innerhalb des Menſchengeſchlechts ſelbſt ſind jene Abſtufungen ſehr beträchtlich und die Verzweigungen des „Seelen-Stammbaums“ höchſt mannigfaltig. Der pſychiſche Unterſchied zwiſchen dem roheſten Naturmenſchen der niederſten Stufe und dem vollkommenſten Kulturmenſchen der höchſten Stufe iſt koloſſal, viel größer, als gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntniß dieſer Thatſache hat beſonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts die „Anthropologie der Naturvölker“ (Waitz) einen lebhaften Aufſchwung genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Pſychologie ge- wonnen. Leider iſt nur das maſſenhaft geſammelte Rohmaterial dieſer Wiſſenſchaft noch nicht genügend kritiſch durchgearbeitet. Welche unklaren und myſtiſchen Vorſtellungen hier noch herrſchen, zeigt z. B. der ſogenannte „Völkergedanke“ des bekannten Reiſenden Adolf Baſtian, der die größten Verdienſte als Begründer des Berliner „Muſeums für Völkerkunde“ beſitzt, aber als fruchtbarer Schriftſteller ein wahres Monſtrum von kritik- loſer Kompilation und konfuſer Spekulation darſtellt ⁴ . Ontogenetiſche Pſychologie. Am meiſten vernachläſſigt und am wenigſten angewendet unter allen Methoden der Seelen- forſchung iſt bis auf den heutigen Tag die Entwickelungs- geſchichte der Seele; und doch iſt gerade dieſer ſelten be- tretene Pfad derjenige, der uns am kürzeſten und ſicherſten durch den dunkeln Urwald der pſychologiſchen Vorurtheile, Dogmen und Irrthümer zu der klaren Einſicht in viele der wichtigſten

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/135>, abgerufen am 19.04.2024.