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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Psychologische Metamorphosen. VI.
entgegengesetzten Grundanschauungen des alten Philosophen
Wundt energisch vertheidigen.

Sehr interessant ist der totale philosophische Prin-
cipien-Wechsel,
der uns hier wieder bei Wundt, wie
früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber
auch bei Karl Ernst Baer und bei Anderen begegnet. In
ihrer Jugend umfassen diese kühnen und talentvollen Natur-
forscher das ganze Gebiet ihrer biologischen Forschung mit weitem
Blick und streben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen
Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben sie eingesehen, daß
dieser nicht vollkommen erreichbar ist, und deßhalb geben sie
ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser psychologischen
Metamorphose können sie natürlich anführen, daß sie in der
Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe übersehen und
die wahren Ziele verkannt hätten; erst mit der reiferen Einsicht
des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie
sich von ihren Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur
Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt
behaupten, daß die großen Männer der Wissenschaft in jüngeren
Jahren unbefangener und muthiger an ihre schwierige Aufgabe
herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner
ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach nicht nur
zur Bereicherung, sondern auch zur Trübung der Einsicht, und
mit dem Greisenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenso im
Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese er-
kenntniß-theoretische Metamorphose an sich eine lehrreiche psycho-
logische Thatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen
des "Gesinnungswechsels", daß die höchsten Seelen-Funktionen
ebenso wesentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des
Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.

Völker-Psychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der
vergleichenden Seelenlehre ist es höchst wichtig, die kritische Ver-

Pſychologiſche Metamorphoſen. VI.
entgegengeſetzten Grundanſchauungen des alten Philoſophen
Wundt energiſch vertheidigen.

Sehr intereſſant iſt der totale philoſophiſche Prin-
cipien-Wechſel,
der uns hier wieder bei Wundt, wie
früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber
auch bei Karl Ernſt Baer und bei Anderen begegnet. In
ihrer Jugend umfaſſen dieſe kühnen und talentvollen Natur-
forſcher das ganze Gebiet ihrer biologiſchen Forſchung mit weitem
Blick und ſtreben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen
Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben ſie eingeſehen, daß
dieſer nicht vollkommen erreichbar iſt, und deßhalb geben ſie
ihn lieber ganz auf. Zur Entſchuldigung dieſer pſychologiſchen
Metamorphoſe können ſie natürlich anführen, daß ſie in der
Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe überſehen und
die wahren Ziele verkannt hätten; erſt mit der reiferen Einſicht
des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten ſie
ſich von ihren Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur
Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt
behaupten, daß die großen Männer der Wiſſenſchaft in jüngeren
Jahren unbefangener und muthiger an ihre ſchwierige Aufgabe
herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner
iſt; die Erfahrungen ſpäterer Jahre führen vielfach nicht nur
zur Bereicherung, ſondern auch zur Trübung der Einſicht, und
mit dem Greiſenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenſo im
Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls iſt dieſe er-
kenntniß-theoretiſche Metamorphoſe an ſich eine lehrreiche pſycho-
logiſche Thatſache; denn ſie beweiſt mit vielen anderen Formen
des „Geſinnungswechſels“, daß die höchſten Seelen-Funktionen
ebenſo weſentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des
Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.

Völker-Pſychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der
vergleichenden Seelenlehre iſt es höchſt wichtig, die kritiſche Ver-

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[118/0134] Pſychologiſche Metamorphoſen. VI. entgegengeſetzten Grundanſchauungen des alten Philoſophen Wundt energiſch vertheidigen. Sehr intereſſant iſt der totale philoſophiſche Prin- cipien-Wechſel, der uns hier wieder bei Wundt, wie früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernſt Baer und bei Anderen begegnet. In ihrer Jugend umfaſſen dieſe kühnen und talentvollen Natur- forſcher das ganze Gebiet ihrer biologiſchen Forſchung mit weitem Blick und ſtreben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben ſie eingeſehen, daß dieſer nicht vollkommen erreichbar iſt, und deßhalb geben ſie ihn lieber ganz auf. Zur Entſchuldigung dieſer pſychologiſchen Metamorphoſe können ſie natürlich anführen, daß ſie in der Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe überſehen und die wahren Ziele verkannt hätten; erſt mit der reiferen Einſicht des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten ſie ſich von ihren Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten, daß die großen Männer der Wiſſenſchaft in jüngeren Jahren unbefangener und muthiger an ihre ſchwierige Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner iſt; die Erfahrungen ſpäterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Bereicherung, ſondern auch zur Trübung der Einſicht, und mit dem Greiſenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenſo im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls iſt dieſe er- kenntniß-theoretiſche Metamorphoſe an ſich eine lehrreiche pſycho- logiſche Thatſache; denn ſie beweiſt mit vielen anderen Formen des „Geſinnungswechſels“, daß die höchſten Seelen-Funktionen ebenſo weſentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten. Völker-Pſychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der vergleichenden Seelenlehre iſt es höchſt wichtig, die kritiſche Ver-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/134>, abgerufen am 20.04.2024.