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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Methoden der vergleichenden Psychologie. VI.
"exakte Methode" hat sich auch hier, wie auf vielen anderen Ge-
bieten der Physiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar
erwiesen; sie ist zwar überall im Princip zu erstreben, aber leider
in den meisten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger sind die
vergleichende und die genetische Methode.

Vergleichende Psychologie. Die auffällige Aehnlichkeit,
welche im Seelenleben des Menschen und der höheren Thiere --
besonders der nächstverwandten Säugethiere -- besteht, ist eine
altbekannte Thatsache. Die meisten Naturvölker machen noch
heute zwischen beiden psychischen Erscheinungsreihen keinen wesent-
lichen Unterschied, wie schon die allgemein verbreiteten Thier-
fabeln, die alten Sagen und die Vorstellungen von der Seelen-
wanderung beweisen. Auch die meisten Philosophen des klassischen
Alterthums waren davon überzeugt und entdeckten zwischen der
menschlichen und thierischen Psyche keine wesentlichen qualitativen,
sondern nur quantitative Unterschiede. Selbst Plato, der
zuerst den fundamentalen Unterschied von Leib und Seele be-
hauptete, ließ in seiner Seelenwanderung eine und dieselbe Seele
(oder "Idee") durch verschiedene Thier- und Menschen-Leiber
hindurch wandern. Erst das Christenthum, welches den Unsterb-
lichkeitsglauben auf's Engste mit dem Gottesglauben verknüpfte,
führte die principielle Scheidung zwischen der unsterblichen
Menschen-Seele und der sterblichen Thier-Seele durch. In der
dualistischen Philosophie gelangte sie vor Allem durch den Ein-
fluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß
nur der Mensch eine wahre "Seele" und somit Empfindung und
freien Willen besitze, daß hingegen die Thiere Automaten, Ma-
schinen ohne Willen und Empfindung seien. Seitdem wurde
von den meisten Psychologen -- namentlich auch von Kant --
das Seelenleben der Thiere ganz vernachlässigt und das psycho-
logische Studium auf den Menschen beschränkt; die menschliche,
meistens rein introspektive Psychologie entbehrte der befruchtenden

Methoden der vergleichenden Pſychologie. VI.
„exakte Methode“ hat ſich auch hier, wie auf vielen anderen Ge-
bieten der Phyſiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar
erwieſen; ſie iſt zwar überall im Princip zu erſtreben, aber leider
in den meiſten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger ſind die
vergleichende und die genetiſche Methode.

Vergleichende Pſychologie. Die auffällige Aehnlichkeit,
welche im Seelenleben des Menſchen und der höheren Thiere —
beſonders der nächſtverwandten Säugethiere — beſteht, iſt eine
altbekannte Thatſache. Die meiſten Naturvölker machen noch
heute zwiſchen beiden pſychiſchen Erſcheinungsreihen keinen weſent-
lichen Unterſchied, wie ſchon die allgemein verbreiteten Thier-
fabeln, die alten Sagen und die Vorſtellungen von der Seelen-
wanderung beweiſen. Auch die meiſten Philoſophen des klaſſiſchen
Alterthums waren davon überzeugt und entdeckten zwiſchen der
menſchlichen und thieriſchen Pſyche keine weſentlichen qualitativen,
ſondern nur quantitative Unterſchiede. Selbſt Plato, der
zuerſt den fundamentalen Unterſchied von Leib und Seele be-
hauptete, ließ in ſeiner Seelenwanderung eine und dieſelbe Seele
(oder „Idee“) durch verſchiedene Thier- und Menſchen-Leiber
hindurch wandern. Erſt das Chriſtenthum, welches den Unſterb-
lichkeitsglauben auf's Engſte mit dem Gottesglauben verknüpfte,
führte die principielle Scheidung zwiſchen der unſterblichen
Menſchen-Seele und der ſterblichen Thier-Seele durch. In der
dualiſtiſchen Philoſophie gelangte ſie vor Allem durch den Ein-
fluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß
nur der Menſch eine wahre „Seele“ und ſomit Empfindung und
freien Willen beſitze, daß hingegen die Thiere Automaten, Ma-
ſchinen ohne Willen und Empfindung ſeien. Seitdem wurde
von den meiſten Pſychologen — namentlich auch von Kant
das Seelenleben der Thiere ganz vernachläſſigt und das pſycho-
logiſche Studium auf den Menſchen beſchränkt; die menſchliche,
meiſtens rein introſpektive Pſychologie entbehrte der befruchtenden

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[114/0130] Methoden der vergleichenden Pſychologie. VI. „exakte Methode“ hat ſich auch hier, wie auf vielen anderen Ge- bieten der Phyſiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar erwieſen; ſie iſt zwar überall im Princip zu erſtreben, aber leider in den meiſten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger ſind die vergleichende und die genetiſche Methode. Vergleichende Pſychologie. Die auffällige Aehnlichkeit, welche im Seelenleben des Menſchen und der höheren Thiere — beſonders der nächſtverwandten Säugethiere — beſteht, iſt eine altbekannte Thatſache. Die meiſten Naturvölker machen noch heute zwiſchen beiden pſychiſchen Erſcheinungsreihen keinen weſent- lichen Unterſchied, wie ſchon die allgemein verbreiteten Thier- fabeln, die alten Sagen und die Vorſtellungen von der Seelen- wanderung beweiſen. Auch die meiſten Philoſophen des klaſſiſchen Alterthums waren davon überzeugt und entdeckten zwiſchen der menſchlichen und thieriſchen Pſyche keine weſentlichen qualitativen, ſondern nur quantitative Unterſchiede. Selbſt Plato, der zuerſt den fundamentalen Unterſchied von Leib und Seele be- hauptete, ließ in ſeiner Seelenwanderung eine und dieſelbe Seele (oder „Idee“) durch verſchiedene Thier- und Menſchen-Leiber hindurch wandern. Erſt das Chriſtenthum, welches den Unſterb- lichkeitsglauben auf's Engſte mit dem Gottesglauben verknüpfte, führte die principielle Scheidung zwiſchen der unſterblichen Menſchen-Seele und der ſterblichen Thier-Seele durch. In der dualiſtiſchen Philoſophie gelangte ſie vor Allem durch den Ein- fluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß nur der Menſch eine wahre „Seele“ und ſomit Empfindung und freien Willen beſitze, daß hingegen die Thiere Automaten, Ma- ſchinen ohne Willen und Empfindung ſeien. Seitdem wurde von den meiſten Pſychologen — namentlich auch von Kant — das Seelenleben der Thiere ganz vernachläſſigt und das pſycho- logiſche Studium auf den Menſchen beſchränkt; die menſchliche, meiſtens rein introſpektive Pſychologie entbehrte der befruchtenden

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/130>, abgerufen am 28.03.2024.