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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VI. Begriffe der Seelenlehre.
schaft aber ist die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig als
in der Seelenlehre, und diese Thatsache ist um so merkwürdiger,
als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, selbst nur
ein Theil der Psychologie ist. Wenn wir Alles vergleichen, was
über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehensten
Philosophen und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist,
so ersticken wir in einem Chaos der widersprechendsten Ansichten.
Was ist denn eigentlich die "Seele"? Wie verhält sie sich
zum "Geist"? Welche Bedeutung hat eigentlich das "Be-
wußtsein
"? Wie unterscheiden sich "Empfindung" und
"Gefühl"? Was ist der "Instinkt"? Wie verhält sich
der "freie Wille"? Was ist "Vorstellung"? Welcher
Unterschied besteht zwischen "Verstand und Vernunft"?
Und was ist eigentlich "Gemüth"? Welche Beziehung besteht
zwischen allen diesen "Seelen-Erscheinungen und dem Körper"?
Die Antworten auf diese und viele andere, sich daran anschließende
Fragen lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die
Ansichten der angesehensten Autoritäten darüber weit aus einander,
sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwickelung ihre
Ansichten völlig verändert. Sicher hat diese "psychologische
Metamorphose
" vieler Denker nicht wenig zu der kolossalen
Konfusion der Begriffe
beigetragen, welche in der Seelen-
lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrscht.

Psychologische Metamorphosen. Das interessanteste Bei-
spiel solchen totalen Wechsels der objektiven und subjektiven
psychologischen Anschauungen liefert wohl der einflußreichste
Führer der deutschen Philosophie, Immanuel Kant. Der
jugendliche, wirklich kritische Kant war zu der Ueberzeugung
gelangt, daß die drei Großmächte des Mysticismus --
"Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" -- im Lichte der "reinen
Vernunft" unhaltbar erschienen; der gealterte, dogmatische

VI. Begriffe der Seelenlehre.
ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als
in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger,
als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur
ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was
über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten
Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt,
ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten.
Was iſt denn eigentlich die „Seele“? Wie verhält ſie ſich
zum „Geiſt“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „Be-
wußtſein
“? Wie unterſcheiden ſich „Empfindung“ und
Gefühl“? Was iſt der „Inſtinkt“? Wie verhält ſich
der „freie Wille“? Was iſt „Vorſtellung“? Welcher
Unterſchied beſteht zwiſchen „Verſtand und Vernunft“?
Und was iſt eigentlich „Gemüth“? Welche Beziehung beſteht
zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem Körper“?
Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende
Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die
Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander,
ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre
Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „pſychologiſche
Metamorphoſe
“ vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen
Konfuſion der Begriffe
beigetragen, welche in der Seelen-
lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht.

Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei-
ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven
pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte
Führer der deutſchen Philoſophie, Immanuel Kant. Der
jugendliche, wirklich kritiſche Kant war zu der Ueberzeugung
gelangt, daß die drei Großmächte des Myſticismus
„Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“ — im Lichte der „reinen
Vernunft“ unhaltbar erſchienen; der gealterte, dogmatiſche

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[107/0123] VI. Begriffe der Seelenlehre. ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt, ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten. Was iſt denn eigentlich die „Seele“? Wie verhält ſie ſich zum „Geiſt“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „Be- wußtſein“? Wie unterſcheiden ſich „Empfindung“ und „Gefühl“? Was iſt der „Inſtinkt“? Wie verhält ſich der „freie Wille“? Was iſt „Vorſtellung“? Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen „Verſtand und Vernunft“? Und was iſt eigentlich „Gemüth“? Welche Beziehung beſteht zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem Körper“? Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander, ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „pſychologiſche Metamorphoſe“ vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen Konfuſion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen- lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht. Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei- ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte Führer der deutſchen Philoſophie, Immanuel Kant. Der jugendliche, wirklich kritiſche Kant war zu der Ueberzeugung gelangt, daß die drei Großmächte des Myſticismus — „Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“ — im Lichte der „reinen Vernunft“ unhaltbar erſchienen; der gealterte, dogmatiſche

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/123>, abgerufen am 24.04.2024.