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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Selektionslehre von Darwin. V.
keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie,
welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenso
vergessen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche
50 Jahre früher (1759) Caspar Friedrich Wolff in seiner
Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß
ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendsten Ideen über
natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erst
nachdem Darwin 1859 die Lösung des Schöpfungs-Problems
von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwischen
angesammelten Schatz von empirischen Kenntnissen glücklich dazu
verwerthet hatte, fing man an, sich auf Lamarck, als seinen
bedeutendsten Vorgänger, wieder zu besinnen.

Selektions-Theorie. Darwin (1859). Der beispiellose
Erfolg von Charles Darwin ist allbekannt; er läßt ihn
heute, am Schlusse des Jahrhunderts, wenn nicht als den
größten, so doch als den wirkungsvollsten Naturforscher desselben
erscheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen großen Geistes-
helden unserer Zeit hat mit einem einzigen classischen Werke
einen so gewaltigen, so tiefgehenden und so umfassenden Erfolg
erzielt, wie Darwin 1859 mit seinem berühmten Hauptwerk:
"Ueber die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich
durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten
Rassen im Kampfe um's Dasein." Gewiß hat die Reform der
vergleichenden Anatomie und Physiologie durch Johannes
Müller
der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche
eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellen-Theorie durch
Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch
Baer, die Begründung des Substanz-Gesetzes durch Robert
Mayer
und Helmholtz wissenschaftliche Großthaten ersten
Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung
eine so gewaltige, unser ganzes menschliches Wissen umgestaltende
Wirkung ausgeübt, wie Darwin's Theorie von der natürlichen

Selektionslehre von Darwin. V.
keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie,
welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenſo
vergeſſen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche
50 Jahre früher (1759) Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner
Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß
ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendſten Ideen über
natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erſt
nachdem Darwin 1859 die Löſung des Schöpfungs-Problems
von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwiſchen
angeſammelten Schatz von empiriſchen Kenntniſſen glücklich dazu
verwerthet hatte, fing man an, ſich auf Lamarck, als ſeinen
bedeutendſten Vorgänger, wieder zu beſinnen.

Selektions-Theorie. Darwin (1859). Der beiſpielloſe
Erfolg von Charles Darwin iſt allbekannt; er läßt ihn
heute, am Schluſſe des Jahrhunderts, wenn nicht als den
größten, ſo doch als den wirkungsvollſten Naturforſcher deſſelben
erſcheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen großen Geiſtes-
helden unſerer Zeit hat mit einem einzigen claſſiſchen Werke
einen ſo gewaltigen, ſo tiefgehenden und ſo umfaſſenden Erfolg
erzielt, wie Darwin 1859 mit ſeinem berühmten Hauptwerk:
„Ueber die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich
durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten
Raſſen im Kampfe um's Daſein.“ Gewiß hat die Reform der
vergleichenden Anatomie und Phyſiologie durch Johannes
Müller
der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche
eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellen-Theorie durch
Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch
Baer, die Begründung des Subſtanz-Geſetzes durch Robert
Mayer
und Helmholtz wiſſenſchaftliche Großthaten erſten
Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung
eine ſo gewaltige, unſer ganzes menſchliches Wiſſen umgeſtaltende
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[90/0106] Selektionslehre von Darwin. V. keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie, welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenſo vergeſſen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche 50 Jahre früher (1759) Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendſten Ideen über natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erſt nachdem Darwin 1859 die Löſung des Schöpfungs-Problems von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwiſchen angeſammelten Schatz von empiriſchen Kenntniſſen glücklich dazu verwerthet hatte, fing man an, ſich auf Lamarck, als ſeinen bedeutendſten Vorgänger, wieder zu beſinnen. Selektions-Theorie. Darwin (1859). Der beiſpielloſe Erfolg von Charles Darwin iſt allbekannt; er läßt ihn heute, am Schluſſe des Jahrhunderts, wenn nicht als den größten, ſo doch als den wirkungsvollſten Naturforſcher deſſelben erſcheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen großen Geiſtes- helden unſerer Zeit hat mit einem einzigen claſſiſchen Werke einen ſo gewaltigen, ſo tiefgehenden und ſo umfaſſenden Erfolg erzielt, wie Darwin 1859 mit ſeinem berühmten Hauptwerk: „Ueber die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Raſſen im Kampfe um's Daſein.“ Gewiß hat die Reform der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie durch Johannes Müller der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellen-Theorie durch Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch Baer, die Begründung des Subſtanz-Geſetzes durch Robert Mayer und Helmholtz wiſſenſchaftliche Großthaten erſten Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung eine ſo gewaltige, unſer ganzes menſchliches Wiſſen umgeſtaltende Wirkung ausgeübt, wie Darwin's Theorie von der natürlichen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/106>, abgerufen am 28.03.2024.