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German Schleifheim von Sulsfort [i. e. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von]: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Monpelgart [i. e. Nürnberg], 1669.

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Erstes Buch.
von Christi Geburt/ Leiden/ Sterben und Aufferste-
hung; zuletzt beschlosse ers mit dem jüngsten Tag/
und stellet mir Himmel und Höll vor Augen/ und
solches alles mit gebührenden Umbständen/ doch nit
mit gar zu überflüssiger Weitläufftigkeit/ sondern
wie ihn dünckte/ daß ichs am allerbesten fassen und
verstehen möchte/ wann er mit einer materia fertig
war/ hub er ein andere an/ und wuste sich bißweilen in
aller Gedult nach meinen Fragen so artlich zu regu-
li
ren/ und mit mir zu verfahren/ daß er mirs auch
nicht besser hätte eingiessen können/ sein Leben und sei-
ne Reden waren mir eine immerwährende Predigt/
welche mein Verstand/ der eben nicht so gar dumm
und höltzern war/ vermittels Göttlicher Gnad/ nicht
ohne Frucht abgehen liesse/ allermassen ich alles das
jenige/ was ein Christ wissen soll/ nicht allein in ge-
dachten dreyen Wochen gefast/ sondern auch ein sol-
che Lieb zu dessen Unterricht gewonnen/ daß ich deß
Nachts nicht darvor schlaffen konte.

Jch habe seithero der Sach vielmal nachgedacht/
und befunden/ daß Aristot. lib. 3. de Anima wol ge-
schlossen/ als er die Seele eines Menschen einer läe-
ren ohnbeschriebenen Tafel verglichen/ darauff man
allerhand notiren könne/ und daß solches alles da-
rumb von dem höchsten Schöpffer geschehen seye/
damit solche glatte Tafel durch fleissige Impression
und Ubung gezeichnet/ und zur Vollkommenheit
und perfection gebracht werde; dahero dann auch
sein Commentator Averroes lib. 2. de Amma (da der
Philosophus sagt/ der Intellectus sey als potentia,
werde aber nichts in actum gebracht/ als durch die
Scientiam, das ist/ es seye deß Menschen Verstand

aller-
B vj

Erſtes Buch.
von Chriſti Geburt/ Leiden/ Sterben und Aufferſte-
hung; zuletzt beſchloſſe ers mit dem juͤngſten Tag/
und ſtellet mir Himmel und Hoͤll vor Augen/ und
ſolches alles mit gebuͤhrenden Umbſtaͤnden/ doch nit
mit gar zu uͤberfluͤſſiger Weitlaͤufftigkeit/ ſondern
wie ihn duͤnckte/ daß ichs am allerbeſten faſſen und
verſtehen moͤchte/ wann er mit einer materia fertig
war/ hub er ein andere an/ und wuſte ſich bißweilen in
aller Gedult nach meinen Fragen ſo artlich zu regu-
li
ren/ und mit mir zu verfahren/ daß er mirs auch
nicht beſſer haͤtte eingieſſen koͤnnen/ ſein Leben und ſei-
ne Reden waren mir eine immerwaͤhrende Predigt/
welche mein Verſtand/ der eben nicht ſo gar dumm
und hoͤltzern war/ vermittels Goͤttlicher Gnad/ nicht
ohne Frucht abgehen lieſſe/ allermaſſen ich alles das
jenige/ was ein Chriſt wiſſen ſoll/ nicht allein in ge-
dachten dreyen Wochen gefaſt/ ſondern auch ein ſol-
che Lieb zu deſſen Unterꝛicht gewonnen/ daß ich deß
Nachts nicht darvor ſchlaffen konte.

Jch habe ſeithero der Sach vielmal nachgedacht/
und befunden/ daß Ariſtot. lib. 3. de Anima wol ge-
ſchloſſen/ als er die Seele eines Menſchen einer laͤe-
ren ohnbeſchriebenen Tafel verglichen/ darauff man
allerhand notiren koͤnne/ und daß ſolches alles da-
rumb von dem hoͤchſten Schoͤpffer geſchehen ſeye/
damit ſolche glatte Tafel durch fleiſſige Impreſſion
und Ubung gezeichnet/ und zur Vollkommenheit
und perfection gebracht werde; dahero dann auch
ſein Commentator Averroes lib. 2. de Amma (da der
Philoſophus ſagt/ der Intellectus ſey als potentia,
werde aber nichts in actum gebracht/ als durch die
Scientiam, das iſt/ es ſeye deß Menſchen Verſtand

aller-
B vj
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[33/0039] Erſtes Buch. von Chriſti Geburt/ Leiden/ Sterben und Aufferſte- hung; zuletzt beſchloſſe ers mit dem juͤngſten Tag/ und ſtellet mir Himmel und Hoͤll vor Augen/ und ſolches alles mit gebuͤhrenden Umbſtaͤnden/ doch nit mit gar zu uͤberfluͤſſiger Weitlaͤufftigkeit/ ſondern wie ihn duͤnckte/ daß ichs am allerbeſten faſſen und verſtehen moͤchte/ wann er mit einer materia fertig war/ hub er ein andere an/ und wuſte ſich bißweilen in aller Gedult nach meinen Fragen ſo artlich zu regu- liren/ und mit mir zu verfahren/ daß er mirs auch nicht beſſer haͤtte eingieſſen koͤnnen/ ſein Leben und ſei- ne Reden waren mir eine immerwaͤhrende Predigt/ welche mein Verſtand/ der eben nicht ſo gar dumm und hoͤltzern war/ vermittels Goͤttlicher Gnad/ nicht ohne Frucht abgehen lieſſe/ allermaſſen ich alles das jenige/ was ein Chriſt wiſſen ſoll/ nicht allein in ge- dachten dreyen Wochen gefaſt/ ſondern auch ein ſol- che Lieb zu deſſen Unterꝛicht gewonnen/ daß ich deß Nachts nicht darvor ſchlaffen konte. Jch habe ſeithero der Sach vielmal nachgedacht/ und befunden/ daß Ariſtot. lib. 3. de Anima wol ge- ſchloſſen/ als er die Seele eines Menſchen einer laͤe- ren ohnbeſchriebenen Tafel verglichen/ darauff man allerhand notiren koͤnne/ und daß ſolches alles da- rumb von dem hoͤchſten Schoͤpffer geſchehen ſeye/ damit ſolche glatte Tafel durch fleiſſige Impreſſion und Ubung gezeichnet/ und zur Vollkommenheit und perfection gebracht werde; dahero dann auch ſein Commentator Averroes lib. 2. de Amma (da der Philoſophus ſagt/ der Intellectus ſey als potentia, werde aber nichts in actum gebracht/ als durch die Scientiam, das iſt/ es ſeye deß Menſchen Verſtand aller- B vj

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Zitationshilfe: German Schleifheim von Sulsfort [i. e. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von]: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Monpelgart [i. e. Nürnberg], 1669, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimmelshausen_simplicissimus_1669/39>, abgerufen am 23.04.2024.