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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Erstarrung, die erstiegene Höhe ist zu fern, als daß wir nicht
noch eine Weile geblendet in der Täuschung fortdauern sollten.

Einige Jahrhunderte später sehen wir keine Höfe mehr,
vor denen Sänger ankommen, mit ihren Liedern das Fest zu
erfreuen und die Freigebigkeit des Herren in sinnreichem Lob
zu erheben. Wir finden stille, geschlossene Städte, in deren
Mauern ehrsame Bürger wohnen, die unter einander eine selt-
same steife Kunst treiben. Betrachten wir diese näher, so hat
sie in nichts das Ansehen einer neuen Erfindung. Schon über-
haupt ließe sich kein Grund einbilden, warum der Bürgerstand
eine besondere Reimkunst unter sich eingeführt haben sollte;
viele sprechen dafür, daß er mit Stolz und Treue bewahrte,
was aus der Borzeit hergekommen war. Aller andere Schmuck
ist ferngehalten aus ihrer Poesie, die Reime aber stehen ver-
waist an den alten Orten, wohin sie nicht recht mehr gehören,
und ohne Bedeutung, wie man lange noch die Zeichen eines
verloren gegangenen Guts fortführt, ohne ihres Sinns zu ge-
denken. Man hat den späteren Meistersang bisher ganz un-
verständig aufgefaßt und eben in seiner Unbehülflichkeit den al-
ten Ursprung nicht gesehen. Ich behaupte, seine Erscheinung
würde uns unerklärlich fallen, wenn wir nicht bis auf die erste
Blüte des Minnesangs zurückgehen könnten. Denn je fester, töd-
tender etwas Unscheinbarem angehangen wird, desto herrlicher und
kräftiger muß die Grundlage gewesen seyn, und ohne Entzük-
kung im Anfang ließe sich nicht begreifen, mit welcher Scheu
ein Volk den leeren Dogmen eines Glaubens treu bleiben kann.
Also weisen auch unsere beiden Perioden nothwendig auf ein-
ander hin und es bliebe in jeder da ein unverständlicher Punct,
wo man sie nicht innig mit einander verbindet.

Oder will man das Alles in der Zeit suchen, die im
Mittel liegt, so daß man sie nicht als wahrhaft vermittelnd
betrachtet, sondern dahin ein bestimmtes Endigen der einen

Erſtarrung, die erſtiegene Hoͤhe iſt zu fern, als daß wir nicht
noch eine Weile geblendet in der Taͤuſchung fortdauern ſollten.

Einige Jahrhunderte ſpaͤter ſehen wir keine Hoͤfe mehr,
vor denen Saͤnger ankommen, mit ihren Liedern das Feſt zu
erfreuen und die Freigebigkeit des Herren in ſinnreichem Lob
zu erheben. Wir finden ſtille, geſchloſſene Staͤdte, in deren
Mauern ehrſame Buͤrger wohnen, die unter einander eine ſelt-
ſame ſteife Kunſt treiben. Betrachten wir dieſe naͤher, ſo hat
ſie in nichts das Anſehen einer neuen Erfindung. Schon uͤber-
haupt ließe ſich kein Grund einbilden, warum der Buͤrgerſtand
eine beſondere Reimkunſt unter ſich eingefuͤhrt haben ſollte;
viele ſprechen dafuͤr, daß er mit Stolz und Treue bewahrte,
was aus der Borzeit hergekommen war. Aller andere Schmuck
iſt ferngehalten aus ihrer Poeſie, die Reime aber ſtehen ver-
waiſt an den alten Orten, wohin ſie nicht recht mehr gehoͤren,
und ohne Bedeutung, wie man lange noch die Zeichen eines
verloren gegangenen Guts fortfuͤhrt, ohne ihres Sinns zu ge-
denken. Man hat den ſpaͤteren Meiſterſang bisher ganz un-
verſtaͤndig aufgefaßt und eben in ſeiner Unbehuͤlflichkeit den al-
ten Urſprung nicht geſehen. Ich behaupte, ſeine Erſcheinung
wuͤrde uns unerklaͤrlich fallen, wenn wir nicht bis auf die erſte
Bluͤte des Minneſangs zuruͤckgehen koͤnnten. Denn je feſter, toͤd-
tender etwas Unſcheinbarem angehangen wird, deſto herrlicher und
kraͤftiger muß die Grundlage geweſen ſeyn, und ohne Entzuͤk-
kung im Anfang ließe ſich nicht begreifen, mit welcher Scheu
ein Volk den leeren Dogmen eines Glaubens treu bleiben kann.
Alſo weiſen auch unſere beiden Perioden nothwendig auf ein-
ander hin und es bliebe in jeder da ein unverſtaͤndlicher Punct,
wo man ſie nicht innig mit einander verbindet.

Oder will man das Alles in der Zeit ſuchen, die im
Mittel liegt, ſo daß man ſie nicht als wahrhaft vermittelnd
betrachtet, ſondern dahin ein beſtimmtes Endigen der einen

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[39/0049] Erſtarrung, die erſtiegene Hoͤhe iſt zu fern, als daß wir nicht noch eine Weile geblendet in der Taͤuſchung fortdauern ſollten. Einige Jahrhunderte ſpaͤter ſehen wir keine Hoͤfe mehr, vor denen Saͤnger ankommen, mit ihren Liedern das Feſt zu erfreuen und die Freigebigkeit des Herren in ſinnreichem Lob zu erheben. Wir finden ſtille, geſchloſſene Staͤdte, in deren Mauern ehrſame Buͤrger wohnen, die unter einander eine ſelt- ſame ſteife Kunſt treiben. Betrachten wir dieſe naͤher, ſo hat ſie in nichts das Anſehen einer neuen Erfindung. Schon uͤber- haupt ließe ſich kein Grund einbilden, warum der Buͤrgerſtand eine beſondere Reimkunſt unter ſich eingefuͤhrt haben ſollte; viele ſprechen dafuͤr, daß er mit Stolz und Treue bewahrte, was aus der Borzeit hergekommen war. Aller andere Schmuck iſt ferngehalten aus ihrer Poeſie, die Reime aber ſtehen ver- waiſt an den alten Orten, wohin ſie nicht recht mehr gehoͤren, und ohne Bedeutung, wie man lange noch die Zeichen eines verloren gegangenen Guts fortfuͤhrt, ohne ihres Sinns zu ge- denken. Man hat den ſpaͤteren Meiſterſang bisher ganz un- verſtaͤndig aufgefaßt und eben in ſeiner Unbehuͤlflichkeit den al- ten Urſprung nicht geſehen. Ich behaupte, ſeine Erſcheinung wuͤrde uns unerklaͤrlich fallen, wenn wir nicht bis auf die erſte Bluͤte des Minneſangs zuruͤckgehen koͤnnten. Denn je feſter, toͤd- tender etwas Unſcheinbarem angehangen wird, deſto herrlicher und kraͤftiger muß die Grundlage geweſen ſeyn, und ohne Entzuͤk- kung im Anfang ließe ſich nicht begreifen, mit welcher Scheu ein Volk den leeren Dogmen eines Glaubens treu bleiben kann. Alſo weiſen auch unſere beiden Perioden nothwendig auf ein- ander hin und es bliebe in jeder da ein unverſtaͤndlicher Punct, wo man ſie nicht innig mit einander verbindet. Oder will man das Alles in der Zeit ſuchen, die im Mittel liegt, ſo daß man ſie nicht als wahrhaft vermittelnd betrachtet, ſondern dahin ein beſtimmtes Endigen der einen

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/49>, abgerufen am 29.03.2024.