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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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gehen ließen, und bald war sie durch eine Menge Theilnehmer
in Ansehen und Förmlichkeit gesichert 23). Die gelehrten Mei-
ster der vorigen Periode starben aus, in den Formen hatten
sich leicht Schüler angelernt. Von den tiefen, subtilen For-
schungen wandte sich der einfache Sinn allmälig ab und hielt
sich an die Darstellung von Wahrheiten der heiligen Schrift und
leichter Allegorien. Zwischen den Minneliedern lag ohnedem
die Kluft der vorigen Periode, und in den protestantischen
Städten, den Hauptsitzen des späteren Meistersangs kam die
Reformation hinzu, die überall reines Haus haben wollte, es
wurden daher weltliche Gegenstände durch Sitte oder vielleicht
selbst in einigen Ordnungen vom Gesang ausgeschlossen. Man
darf aber durchaus nicht diese sicher nicht allgemeine Einschrän-
kung aus dem Princip des Meistergesangs ableiten, dem sie
nur aufgedrungen und fremdartig war; wir haben sogar nicht
wenig wirkliche Meisterlieder aus der letzten Zeit, welche von
Liebe oder lustigen Späßen handeln 24). Wenn das auch nicht
gern auf den Schulen öffentlich abgesungen wurde, so schrieben
es doch zu Haus die Meister in ihre Bücher mitten unter
die andern und niemand wird in der That Lieder, die in

23) Hans Sachs soll den Meistergesang so aufgebracht haben, daß
mit ihm 250 zu Nürnberg gewesen. (Vogt.)
24) Docen hat selbst einige dergleichen aus etwas früherer Periode
mitgetheilt, die er ja nicht Minnelieder, aber doch erotische
nennt. Ueberhaupt sind ihm einige Abfertigungen zur Hand,
welche auf alle Beispiele passen, die man gegen ihn anführt.
Citirt man ihm das gefoderte Exempel einer spätern Form in
früher Zeit, so scheint der Dichter entweder ein armer -- dann
ist es ja auch ein Meistersinger, -- oder ein reicher -- dann
ist die Aehnlichkeit zufällig. Citirt man ein Minnelied eines
alten Meisters, -- so ist es nebenbei, außerhalb der Meister-
kunst gemacht und kein eigentliches Meisterlied, -- oder eines
späten -- so ist es kein eigentliches Minnelied. Ich möchte
wissen, wo die Zeit angeht, nach der er ein Minnelied in
unleugbarer Meisterform für einen Meistersang gelten läßt!

gehen ließen, und bald war ſie durch eine Menge Theilnehmer
in Anſehen und Foͤrmlichkeit geſichert 23). Die gelehrten Mei-
ſter der vorigen Periode ſtarben aus, in den Formen hatten
ſich leicht Schuͤler angelernt. Von den tiefen, ſubtilen For-
ſchungen wandte ſich der einfache Sinn allmaͤlig ab und hielt
ſich an die Darſtellung von Wahrheiten der heiligen Schrift und
leichter Allegorien. Zwiſchen den Minneliedern lag ohnedem
die Kluft der vorigen Periode, und in den proteſtantiſchen
Staͤdten, den Hauptſitzen des ſpaͤteren Meiſterſangs kam die
Reformation hinzu, die uͤberall reines Haus haben wollte, es
wurden daher weltliche Gegenſtaͤnde durch Sitte oder vielleicht
ſelbſt in einigen Ordnungen vom Geſang ausgeſchloſſen. Man
darf aber durchaus nicht dieſe ſicher nicht allgemeine Einſchraͤn-
kung aus dem Princip des Meiſtergeſangs ableiten, dem ſie
nur aufgedrungen und fremdartig war; wir haben ſogar nicht
wenig wirkliche Meiſterlieder aus der letzten Zeit, welche von
Liebe oder luſtigen Spaͤßen handeln 24). Wenn das auch nicht
gern auf den Schulen oͤffentlich abgeſungen wurde, ſo ſchrieben
es doch zu Haus die Meiſter in ihre Buͤcher mitten unter
die andern und niemand wird in der That Lieder, die in

23) Hans Sachs ſoll den Meiſtergeſang ſo aufgebracht haben, daß
mit ihm 250 zu Nuͤrnberg geweſen. (Vogt.)
24) Docen hat ſelbſt einige dergleichen aus etwas fruͤherer Periode
mitgetheilt, die er ja nicht Minnelieder, aber doch erotiſche
nennt. Ueberhaupt ſind ihm einige Abfertigungen zur Hand,
welche auf alle Beiſpiele paſſen, die man gegen ihn anfuͤhrt.
Citirt man ihm das gefoderte Exempel einer ſpaͤtern Form in
fruͤher Zeit, ſo ſcheint der Dichter entweder ein armer — dann
iſt es ja auch ein Meiſterſinger, — oder ein reicher — dann
iſt die Aehnlichkeit zufaͤllig. Citirt man ein Minnelied eines
alten Meiſters, — ſo iſt es nebenbei, außerhalb der Meiſter-
kunſt gemacht und kein eigentliches Meiſterlied, — oder eines
ſpaͤten — ſo iſt es kein eigentliches Minnelied. Ich moͤchte
wiſſen, wo die Zeit angeht, nach der er ein Minnelied in
unleugbarer Meiſterform fuͤr einen Meiſterſang gelten laͤßt!
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[34/0044] gehen ließen, und bald war ſie durch eine Menge Theilnehmer in Anſehen und Foͤrmlichkeit geſichert 23). Die gelehrten Mei- ſter der vorigen Periode ſtarben aus, in den Formen hatten ſich leicht Schuͤler angelernt. Von den tiefen, ſubtilen For- ſchungen wandte ſich der einfache Sinn allmaͤlig ab und hielt ſich an die Darſtellung von Wahrheiten der heiligen Schrift und leichter Allegorien. Zwiſchen den Minneliedern lag ohnedem die Kluft der vorigen Periode, und in den proteſtantiſchen Staͤdten, den Hauptſitzen des ſpaͤteren Meiſterſangs kam die Reformation hinzu, die uͤberall reines Haus haben wollte, es wurden daher weltliche Gegenſtaͤnde durch Sitte oder vielleicht ſelbſt in einigen Ordnungen vom Geſang ausgeſchloſſen. Man darf aber durchaus nicht dieſe ſicher nicht allgemeine Einſchraͤn- kung aus dem Princip des Meiſtergeſangs ableiten, dem ſie nur aufgedrungen und fremdartig war; wir haben ſogar nicht wenig wirkliche Meiſterlieder aus der letzten Zeit, welche von Liebe oder luſtigen Spaͤßen handeln 24). Wenn das auch nicht gern auf den Schulen oͤffentlich abgeſungen wurde, ſo ſchrieben es doch zu Haus die Meiſter in ihre Buͤcher mitten unter die andern und niemand wird in der That Lieder, die in 23) Hans Sachs ſoll den Meiſtergeſang ſo aufgebracht haben, daß mit ihm 250 zu Nuͤrnberg geweſen. (Vogt.) 24) Docen hat ſelbſt einige dergleichen aus etwas fruͤherer Periode mitgetheilt, die er ja nicht Minnelieder, aber doch erotiſche nennt. Ueberhaupt ſind ihm einige Abfertigungen zur Hand, welche auf alle Beiſpiele paſſen, die man gegen ihn anfuͤhrt. Citirt man ihm das gefoderte Exempel einer ſpaͤtern Form in fruͤher Zeit, ſo ſcheint der Dichter entweder ein armer — dann iſt es ja auch ein Meiſterſinger, — oder ein reicher — dann iſt die Aehnlichkeit zufaͤllig. Citirt man ein Minnelied eines alten Meiſters, — ſo iſt es nebenbei, außerhalb der Meiſter- kunſt gemacht und kein eigentliches Meiſterlied, — oder eines ſpaͤten — ſo iſt es kein eigentliches Minnelied. Ich moͤchte wiſſen, wo die Zeit angeht, nach der er ein Minnelied in unleugbarer Meiſterform fuͤr einen Meiſterſang gelten laͤßt!

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/44>, abgerufen am 23.04.2024.