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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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herz, Wilhelm von Poitou, einem König von Navarra läßt
sich das Eigenthum der Lieder nicht absprechen. In ganz Eu-
ropa ergriff damals das Dichten die Fürsten, wie später im
15. und 16. Jahrh. die Gelehrsamkeit, oder wie sie vorher
von den Spielleuten Gesang und Harfe erlernten.

Eine Stelle Meister Alexanders kommt mir gerade in Ge-
danken, welche ich noch erwähne, damit sie keiner gegen mich
gebrauchen will. Er klagt darin den Verfall der Sängerkunst,
die ehedem von Herren und Königen wäre getrieben werden.
Gleich schon der Umstand, daß hier ein unbestrittener Meister-
sänger spricht, ist dem Schluß entgegen, den man aus der
Stelle ziehen könnte, sie würde dann bloß beweisen, daß die
ältesten und berühmtesten Meister aus hohem Stande gewe-
sen, was ich gewissermaßen leugne. Auch ließe sich etwa al-
les von dem Schutz auslegen, der ehemals dem Meisterge-
sang zu Theil geworden, da er noch an den Höfen beliebt ge-
wesen, was niemand leugnen wird. Man braucht indessen nur
die folgende Strophe Alexanders zu lesen, um zu merken, daß
er dießmal weit über die deutsche Zeit hinaus an das Beispiel 13)
des singenden David und der tanzenden Herodias gedacht.

Hiermit hoffe ich gezeigt zu haben, daß ein Unterschied
zwischen den alten Meistern und gleichzeitigen Minnedichtern
unhistorisch sey, ja widersinnig, und noch vielmehr einer zwi-
schen gleichzeitigen Meister- und Minneliedern, nach welchem
sich zweierlei Gesang in einer und derselben Person und in
denselben Weisen darthun soll.

Gibt man mir dieses zu, so habe ich streng genommen
meinen Gegner widerlegt. Da er indessen von der Existenz
der alten Meister manchmal zweideutig redet und den innigen
Zusammenhang mit den spätern nicht gern eingestehet, so lasse
ich nun meine ganze Vorstellung folgen. Die seinige wird da-

13) Dieses figurirt auch noch terminologisch in den Meisterschulen.
Vergl. auch Morolf u. Sal. v. 1320 u. 2508.

herz, Wilhelm von Poitou, einem Koͤnig von Navarra laͤßt
ſich das Eigenthum der Lieder nicht abſprechen. In ganz Eu-
ropa ergriff damals das Dichten die Fuͤrſten, wie ſpaͤter im
15. und 16. Jahrh. die Gelehrſamkeit, oder wie ſie vorher
von den Spielleuten Geſang und Harfe erlernten.

Eine Stelle Meiſter Alexanders kommt mir gerade in Ge-
danken, welche ich noch erwaͤhne, damit ſie keiner gegen mich
gebrauchen will. Er klagt darin den Verfall der Saͤngerkunſt,
die ehedem von Herren und Koͤnigen waͤre getrieben werden.
Gleich ſchon der Umſtand, daß hier ein unbeſtrittener Meiſter-
ſaͤnger ſpricht, iſt dem Schluß entgegen, den man aus der
Stelle ziehen koͤnnte, ſie wuͤrde dann bloß beweiſen, daß die
aͤlteſten und beruͤhmteſten Meiſter aus hohem Stande gewe-
ſen, was ich gewiſſermaßen leugne. Auch ließe ſich etwa al-
les von dem Schutz auslegen, der ehemals dem Meiſterge-
ſang zu Theil geworden, da er noch an den Hoͤfen beliebt ge-
weſen, was niemand leugnen wird. Man braucht indeſſen nur
die folgende Strophe Alexanders zu leſen, um zu merken, daß
er dießmal weit uͤber die deutſche Zeit hinaus an das Beiſpiel 13)
des ſingenden David und der tanzenden Herodias gedacht.

Hiermit hoffe ich gezeigt zu haben, daß ein Unterſchied
zwiſchen den alten Meiſtern und gleichzeitigen Minnedichtern
unhiſtoriſch ſey, ja widerſinnig, und noch vielmehr einer zwi-
ſchen gleichzeitigen Meiſter- und Minneliedern, nach welchem
ſich zweierlei Geſang in einer und derſelben Perſon und in
denſelben Weiſen darthun ſoll.

Gibt man mir dieſes zu, ſo habe ich ſtreng genommen
meinen Gegner widerlegt. Da er indeſſen von der Exiſtenz
der alten Meiſter manchmal zweideutig redet und den innigen
Zuſammenhang mit den ſpaͤtern nicht gern eingeſtehet, ſo laſſe
ich nun meine ganze Vorſtellung folgen. Die ſeinige wird da-

13) Dieſes figurirt auch noch terminologiſch in den Meiſterſchulen.
Vergl. auch Morolf u. Sal. v. 1320 u. 2508.
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[24/0034] herz, Wilhelm von Poitou, einem Koͤnig von Navarra laͤßt ſich das Eigenthum der Lieder nicht abſprechen. In ganz Eu- ropa ergriff damals das Dichten die Fuͤrſten, wie ſpaͤter im 15. und 16. Jahrh. die Gelehrſamkeit, oder wie ſie vorher von den Spielleuten Geſang und Harfe erlernten. Eine Stelle Meiſter Alexanders kommt mir gerade in Ge- danken, welche ich noch erwaͤhne, damit ſie keiner gegen mich gebrauchen will. Er klagt darin den Verfall der Saͤngerkunſt, die ehedem von Herren und Koͤnigen waͤre getrieben werden. Gleich ſchon der Umſtand, daß hier ein unbeſtrittener Meiſter- ſaͤnger ſpricht, iſt dem Schluß entgegen, den man aus der Stelle ziehen koͤnnte, ſie wuͤrde dann bloß beweiſen, daß die aͤlteſten und beruͤhmteſten Meiſter aus hohem Stande gewe- ſen, was ich gewiſſermaßen leugne. Auch ließe ſich etwa al- les von dem Schutz auslegen, der ehemals dem Meiſterge- ſang zu Theil geworden, da er noch an den Hoͤfen beliebt ge- weſen, was niemand leugnen wird. Man braucht indeſſen nur die folgende Strophe Alexanders zu leſen, um zu merken, daß er dießmal weit uͤber die deutſche Zeit hinaus an das Beiſpiel 13) des ſingenden David und der tanzenden Herodias gedacht. Hiermit hoffe ich gezeigt zu haben, daß ein Unterſchied zwiſchen den alten Meiſtern und gleichzeitigen Minnedichtern unhiſtoriſch ſey, ja widerſinnig, und noch vielmehr einer zwi- ſchen gleichzeitigen Meiſter- und Minneliedern, nach welchem ſich zweierlei Geſang in einer und derſelben Perſon und in denſelben Weiſen darthun ſoll. Gibt man mir dieſes zu, ſo habe ich ſtreng genommen meinen Gegner widerlegt. Da er indeſſen von der Exiſtenz der alten Meiſter manchmal zweideutig redet und den innigen Zuſammenhang mit den ſpaͤtern nicht gern eingeſtehet, ſo laſſe ich nun meine ganze Vorſtellung folgen. Die ſeinige wird da- 13) Dieſes figurirt auch noch terminologiſch in den Meiſterſchulen. Vergl. auch Morolf u. Sal. v. 1320 u. 2508.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/34>, abgerufen am 29.03.2024.