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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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es, 'die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.' Die weise Frau sprach 'Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt deine Schwestern daß sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben und vergrab es vor der Hausthür in die Erde, so wirds dein Glück sein.' Da verschwand sie, und Zweiäuglein gieng heim und sprach zu den Schwestern 'liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.' Da lachten sie und sprachen 'kannst du haben, wenn du weiter nichts willst.' Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre.

Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wußten aber nicht wie der Baum in der Nacht dahin gekommen war, nur Zweiäuglein merkte, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein 'steig hinauf, mein Kind und brich uns die Früchte von dem Baume ab.' Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen: und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter 'Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.' Einäuglein rutschte herunter und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich

es, ‘die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.’ Die weise Frau sprach ‘Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt deine Schwestern daß sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben und vergrab es vor der Hausthür in die Erde, so wirds dein Glück sein.’ Da verschwand sie, und Zweiäuglein gieng heim und sprach zu den Schwestern ‘liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.’ Da lachten sie und sprachen ‘kannst du haben, wenn du weiter nichts willst.’ Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre.

Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wußten aber nicht wie der Baum in der Nacht dahin gekommen war, nur Zweiäuglein merkte, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein ‘steig hinauf, mein Kind und brich uns die Früchte von dem Baume ab.’ Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen: und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter ‘Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.’ Einäuglein rutschte herunter und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich

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[216/0228] es, ‘die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter todt gestochen; nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.’ Die weise Frau sprach ‘Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rath ertheilen, bitt deine Schwestern daß sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben und vergrab es vor der Hausthür in die Erde, so wirds dein Glück sein.’ Da verschwand sie, und Zweiäuglein gieng heim und sprach zu den Schwestern ‘liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.’ Da lachten sie und sprachen ‘kannst du haben, wenn du weiter nichts willst.’ Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrubs Abends in aller Stille nach dem Rathe der weisen Frau vor die Hausthüre. Am andern Morgen, als sie insgesammt erwachten und vor die Hausthüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hiengen dazwischen, daß wohl nichts schöneres und köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wußten aber nicht wie der Baum in der Nacht dahin gekommen war, nur Zweiäuglein merkte, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein ‘steig hinauf, mein Kind und brich uns die Früchte von dem Baume ab.’ Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen: und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen wie es wollte. Da sprach die Mutter ‘Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.’ Einäuglein rutschte herunter und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/228>, abgerufen am 29.03.2024.