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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.

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Also zogen sie zusammen und nahmen auch ihr kleines Kind mit. Sie ließ dort einen Saal mauern, so stark und dick, daß kein Strahl durchdringen konnte, darin sollt er sitzen, wann die Hochzeitslichter angesteckt würden. Die Thür aber war von frischem Holz gemacht, das sprang und bekam einen kleinen Ritz, den kein Mensch bemerkte. Nun ward die Hochzeit mit Pracht gefeiert, wie aber der Zug aus der Kirche zurückkam mit den vielen Fackeln und Lichtern an dem Saal vorbei, da fiel ein haarbreiter Strahl auf den Königssohn, und wie dieser Strahl ihn berührt hatte, in dem Augenblick war er auch verwandelt, und als sie hineinkam und ihn suchte, sah sie ihn nicht, aber es saß da eine weiße Taube. Die Taube sprach zu ihr 'sieben Jahr muß ich in die Welt fortfliegen: alle sieben Schritte aber will ich einen rothen Blutstropfen und eine weiße Feder fallen lassen, die sollen dir den Weg zeigen, und wenn du der Spur folgst, kannst du mich erlösen.'

Da flog die Taube zur Thür hinaus, und sie folgte ihr nach, und alle sieben Schritte fiel ein rothes Blutströpfchen und ein weißes Federchen herab und zeigte ihr den Weg. So gieng sie immer zu in die weite Welt hinein, und schaute nicht um sich und ruhte sich nicht, und waren fast die sieben Jahre herum: da freute sie sich und meinte sie wären bald erlöst, und war noch so weit davon. Einmal, als sie so fortgieng, fiel kein Federchen mehr und auch kein rothes Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, so war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte 'Menschen können dir da nicht helfen,' so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr 'du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen, hast du

Also zogen sie zusammen und nahmen auch ihr kleines Kind mit. Sie ließ dort einen Saal mauern, so stark und dick, daß kein Strahl durchdringen konnte, darin sollt er sitzen, wann die Hochzeitslichter angesteckt würden. Die Thür aber war von frischem Holz gemacht, das sprang und bekam einen kleinen Ritz, den kein Mensch bemerkte. Nun ward die Hochzeit mit Pracht gefeiert, wie aber der Zug aus der Kirche zurückkam mit den vielen Fackeln und Lichtern an dem Saal vorbei, da fiel ein haarbreiter Strahl auf den Königssohn, und wie dieser Strahl ihn berührt hatte, in dem Augenblick war er auch verwandelt, und als sie hineinkam und ihn suchte, sah sie ihn nicht, aber es saß da eine weiße Taube. Die Taube sprach zu ihr ‘sieben Jahr muß ich in die Welt fortfliegen: alle sieben Schritte aber will ich einen rothen Blutstropfen und eine weiße Feder fallen lassen, die sollen dir den Weg zeigen, und wenn du der Spur folgst, kannst du mich erlösen.’

Da flog die Taube zur Thür hinaus, und sie folgte ihr nach, und alle sieben Schritte fiel ein rothes Blutströpfchen und ein weißes Federchen herab und zeigte ihr den Weg. So gieng sie immer zu in die weite Welt hinein, und schaute nicht um sich und ruhte sich nicht, und waren fast die sieben Jahre herum: da freute sie sich und meinte sie wären bald erlöst, und war noch so weit davon. Einmal, als sie so fortgieng, fiel kein Federchen mehr und auch kein rothes Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, so war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte ‘Menschen können dir da nicht helfen,’ so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr ‘du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen, hast du

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[10/0022] Also zogen sie zusammen und nahmen auch ihr kleines Kind mit. Sie ließ dort einen Saal mauern, so stark und dick, daß kein Strahl durchdringen konnte, darin sollt er sitzen, wann die Hochzeitslichter angesteckt würden. Die Thür aber war von frischem Holz gemacht, das sprang und bekam einen kleinen Ritz, den kein Mensch bemerkte. Nun ward die Hochzeit mit Pracht gefeiert, wie aber der Zug aus der Kirche zurückkam mit den vielen Fackeln und Lichtern an dem Saal vorbei, da fiel ein haarbreiter Strahl auf den Königssohn, und wie dieser Strahl ihn berührt hatte, in dem Augenblick war er auch verwandelt, und als sie hineinkam und ihn suchte, sah sie ihn nicht, aber es saß da eine weiße Taube. Die Taube sprach zu ihr ‘sieben Jahr muß ich in die Welt fortfliegen: alle sieben Schritte aber will ich einen rothen Blutstropfen und eine weiße Feder fallen lassen, die sollen dir den Weg zeigen, und wenn du der Spur folgst, kannst du mich erlösen.’ Da flog die Taube zur Thür hinaus, und sie folgte ihr nach, und alle sieben Schritte fiel ein rothes Blutströpfchen und ein weißes Federchen herab und zeigte ihr den Weg. So gieng sie immer zu in die weite Welt hinein, und schaute nicht um sich und ruhte sich nicht, und waren fast die sieben Jahre herum: da freute sie sich und meinte sie wären bald erlöst, und war noch so weit davon. Einmal, als sie so fortgieng, fiel kein Federchen mehr und auch kein rothes Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, so war die Taube verschwunden. Und weil sie dachte ‘Menschen können dir da nicht helfen,’ so stieg sie zur Sonne hinauf und sagte zu ihr ‘du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen, hast du

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850/22>, abgerufen am 29.03.2024.