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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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dessen Ruhm noch heute bis nach China fortdauert. Alle Zeichen deuten darauf daß wir nur die Auflösung eines alten Gedichts vor uns haben, dessen Zeit man nicht kennt, dessen Jnhalt aber auf ein hohes Alter zurück weist. Man kann leicht einzelne, für sich bestehende Theile abtrennen, zumal in den ersten die Geburt und die Jugend Gessers umfassenden Abschnitten, die nur durch schwache Bande zusammen gehalten werden; erst in den Kriegen mit den drei schiraigholischen Chanen zeigt sich mehr epischer Zusammenhang. Die Dichtung gewährt helle Blicke in die früheren Zustände ostasiatischer Völker und ist auch in dieser Beziehung von nicht geringem Werth. Das Erhabene und Großartige der Gedanken, das in Kalevala Bewunderung erregt, fehlt hier gänzlich, aber die mythische Bedeutsamkeit und die ungezügelte Phantasie bricht in ähnlicher Weise hervor, ja es fehlt nicht an Bildern in dem Geist jener Zeit: ein Pfeil bei Sonnenaufgang abgeschossen fällt erst nieder, wenn die Sonne drei Viertel von ihrer Bahn vollendet hat: ein Stier ist so groß, daß sein rechtes Horn den Himmel stützt, sein linkes die Erde berührt: ein Felsenstück wird von einem Berggipfel zum andern geworfen; anderes ist wild und wüst. Gesser, die Verkörperung eines Gottes, der an einer Kette in den Himmel und wieder herabsteigt, bewährt seine Abstammung durch übernatürliche Kräfte und durch Verwandelungen in jegliche, selbst in doppelte Gestalt, womit er jeden Widerstand besiegt: er schafft zauberhafte Helden, deren einer als Feuerklumpen unter die Feinde sich wälzt und sie verbrennt. Schön wird seine Macht ausgedrückt, wenn es heißt 'die Erde bebt, wenn Gesser weint;' er beruhigt sie durch Räucherwerk (S. 228. 238. 243). Auch seine Gegner sind meist übernatürliche Wesen, Riesen, deren Macht so weit geht, daß sie in Felsenwände verwandelt sich herbei bewegen und zusammen schlagend ihren Feind erdrücken. Gessers Kampf mit ihnen hat

dessen Ruhm noch heute bis nach China fortdauert. Alle Zeichen deuten darauf daß wir nur die Auflösung eines alten Gedichts vor uns haben, dessen Zeit man nicht kennt, dessen Jnhalt aber auf ein hohes Alter zurück weist. Man kann leicht einzelne, für sich bestehende Theile abtrennen, zumal in den ersten die Geburt und die Jugend Gessers umfassenden Abschnitten, die nur durch schwache Bande zusammen gehalten werden; erst in den Kriegen mit den drei schiraigholischen Chanen zeigt sich mehr epischer Zusammenhang. Die Dichtung gewährt helle Blicke in die früheren Zustände ostasiatischer Völker und ist auch in dieser Beziehung von nicht geringem Werth. Das Erhabene und Großartige der Gedanken, das in Kalevala Bewunderung erregt, fehlt hier gänzlich, aber die mythische Bedeutsamkeit und die ungezügelte Phantasie bricht in ähnlicher Weise hervor, ja es fehlt nicht an Bildern in dem Geist jener Zeit: ein Pfeil bei Sonnenaufgang abgeschossen fällt erst nieder, wenn die Sonne drei Viertel von ihrer Bahn vollendet hat: ein Stier ist so groß, daß sein rechtes Horn den Himmel stützt, sein linkes die Erde berührt: ein Felsenstück wird von einem Berggipfel zum andern geworfen; anderes ist wild und wüst. Gesser, die Verkörperung eines Gottes, der an einer Kette in den Himmel und wieder herabsteigt, bewährt seine Abstammung durch übernatürliche Kräfte und durch Verwandelungen in jegliche, selbst in doppelte Gestalt, womit er jeden Widerstand besiegt: er schafft zauberhafte Helden, deren einer als Feuerklumpen unter die Feinde sich wälzt und sie verbrennt. Schön wird seine Macht ausgedrückt, wenn es heißt ‘die Erde bebt, wenn Gesser weint;’ er beruhigt sie durch Räucherwerk (S. 228. 238. 243). Auch seine Gegner sind meist übernatürliche Wesen, Riesen, deren Macht so weit geht, daß sie in Felsenwände verwandelt sich herbei bewegen und zusammen schlagend ihren Feind erdrücken. Gessers Kampf mit ihnen hat

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[XXXVIII/0044] dessen Ruhm noch heute bis nach China fortdauert. Alle Zeichen deuten darauf daß wir nur die Auflösung eines alten Gedichts vor uns haben, dessen Zeit man nicht kennt, dessen Jnhalt aber auf ein hohes Alter zurück weist. Man kann leicht einzelne, für sich bestehende Theile abtrennen, zumal in den ersten die Geburt und die Jugend Gessers umfassenden Abschnitten, die nur durch schwache Bande zusammen gehalten werden; erst in den Kriegen mit den drei schiraigholischen Chanen zeigt sich mehr epischer Zusammenhang. Die Dichtung gewährt helle Blicke in die früheren Zustände ostasiatischer Völker und ist auch in dieser Beziehung von nicht geringem Werth. Das Erhabene und Großartige der Gedanken, das in Kalevala Bewunderung erregt, fehlt hier gänzlich, aber die mythische Bedeutsamkeit und die ungezügelte Phantasie bricht in ähnlicher Weise hervor, ja es fehlt nicht an Bildern in dem Geist jener Zeit: ein Pfeil bei Sonnenaufgang abgeschossen fällt erst nieder, wenn die Sonne drei Viertel von ihrer Bahn vollendet hat: ein Stier ist so groß, daß sein rechtes Horn den Himmel stützt, sein linkes die Erde berührt: ein Felsenstück wird von einem Berggipfel zum andern geworfen; anderes ist wild und wüst. Gesser, die Verkörperung eines Gottes, der an einer Kette in den Himmel und wieder herabsteigt, bewährt seine Abstammung durch übernatürliche Kräfte und durch Verwandelungen in jegliche, selbst in doppelte Gestalt, womit er jeden Widerstand besiegt: er schafft zauberhafte Helden, deren einer als Feuerklumpen unter die Feinde sich wälzt und sie verbrennt. Schön wird seine Macht ausgedrückt, wenn es heißt ‘die Erde bebt, wenn Gesser weint;’ er beruhigt sie durch Räucherwerk (S. 228. 238. 243). Auch seine Gegner sind meist übernatürliche Wesen, Riesen, deren Macht so weit geht, daß sie in Felsenwände verwandelt sich herbei bewegen und zusammen schlagend ihren Feind erdrücken. Gessers Kampf mit ihnen hat

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. XXXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/44>, abgerufen am 23.04.2024.