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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. von den buchstaben insgemein.
formen und den neuhochd. mensch, fischer, salbte, in
denen die tieftöne tonlos geworden und verschluckt
sind, haben grade gelegen, welche man im mittelh.
suchen muß. Hier schwebte mennische schon über in
menische mit der zweiten stumm, selbst in die abwer-
fung des letzten e; bei Boppo (2. 233 a) reimt me-
nesch auf thenesch stumpf. Im 12. jahrh. konnten sich
reime wie mennischen: fischen finden (Maria 1029 men-
nische: tische). Das mittelh. vischaere hat die zweite
noch tieftonig, tonlos aber salbete. Ferner, im mittelh.
ist von zwei kurzen silben die zweite stumm (laden,
manic, lesen) aber auf eine erste lange folgt die zweite
tonlos (slafen heilic, saelic); doch bei verlängerter endung
bricht der alte tiefton hervor (saeligen: genigen). wie
uns Lachmann lehrt. Der alth. acc. saleigan hatte ge-
wiß den nämlichen tiefton, vermuthlich auch der nom.
saleig (O. II. 16, 50: weig). Sollte sich die nord. doppelte
form heilagr und helgr anschlagen laßen? in letzterer
ist der stumme vocal ausgefallen, in ersterer der be-
tonte geblieben. Und hätte im goth. liubana (carum)
und frumana (probum) die zweite silbe deutlich ver-
schiedenen accent gehabt? Es ließen sich zweifel vor-
bringen.

4) daß es stumme laute auch schon im goth. gegeben
habe, bezweifle ich gar nicht, weil gerade der Gothe
in manchen fällen vocale auswirst, wo sie im alth. noch
tonlos oder stumm stehen bleiben, namentlich zwischen
muta und liq. z. b. fugls, rign, alth. fogal: regan.
Diese neigung zieht durch die goth. sprache, und be-
weist das eigenthümliche gothischer accentuation. Die
geschichte der accente wird sich also mit der sehr ver-
schiedenen entwickelung der bildungs- und flexions-
triebe jeder mundart vertraut zu machen haben und dies
sind untersuchungen, worauf unsere jetzige grammatische
kenntniß noch nicht recht gerüstet ist.

Wegwerfen der buchstaben.

Die sprache ändert sich nicht allein durch den über-
gang von buchstaben in andere, durch die verwechse-
lung der kürzen mit längen und beider mit dem tone,
so wie durch die vermilchung verschiedener accente;
eine haupterklärung ihrer vielgestaltigen entwickelung
fließt aus dem freilich mit der schwächung der quanti-

I. von den buchſtaben insgemein.
formen und den neuhochd. menſch, fiſcher, ſalbte, in
denen die tieftöne tonlos geworden und verſchluckt
ſind, haben grade gelegen, welche man im mittelh.
ſuchen muß. Hier ſchwebte menniſche ſchon über in
meniſche mit der zweiten ſtumm, ſelbſt in die abwer-
fung des letzten e; bei Boppo (2. 233 a) reimt me-
neſch auf theneſch ſtumpf. Im 12. jahrh. konnten ſich
reime wie menniſchen: fiſchen finden (Maria 1029 men-
niſche: tiſche). Das mittelh. viſchære hat die zweite
noch tieftonig, tonlos aber ſalbete. Ferner, im mittelh.
iſt von zwei kurzen ſilben die zweite ſtumm (laden,
manic, lëſen) aber auf eine erſte lange folgt die zweite
tonlos (ſlâfen heilic, ſælic); doch bei verlängerter endung
bricht der alte tiefton hervor (ſæligen: genigen). wie
uns Lachmann lehrt. Der alth. acc. ſâlîgan hatte ge-
wiß den nämlichen tiefton, vermuthlich auch der nom.
ſâlîg (O. II. 16, 50: wîg). Sollte ſich die nord. doppelte
form heilagr und helgr anſchlagen laßen? in letzterer
iſt der ſtumme vocal ausgefallen, in erſterer der be-
tonte geblieben. Und hätte im goth. liubana (carum)
und frumana (probum) die zweite ſilbe deutlich ver-
ſchiedenen accent gehabt? Es ließen ſich zweifel vor-
bringen.

4) daß es ſtumme laute auch ſchon im goth. gegeben
habe, bezweifle ich gar nicht, weil gerade der Gothe
in manchen fällen vocale auswirſt, wo ſie im alth. noch
tonlos oder ſtumm ſtehen bleiben, namentlich zwiſchen
muta und liq. z. b. fugls, rign, alth. fogal: rëgan.
Dieſe neigung zieht durch die goth. ſprache, und be-
weiſt das eigenthümliche gothiſcher accentuation. Die
geſchichte der accente wird ſich alſo mit der ſehr ver-
ſchiedenen entwickelung der bildungs- und flexions-
triebe jeder mundart vertraut zu machen haben und dies
ſind unterſuchungen, worauf unſere jetzige grammatiſche
kenntniß noch nicht recht gerüſtet iſt.

Wegwerfen der buchſtaben.

Die ſprache ändert ſich nicht allein durch den über-
gang von buchſtaben in andere, durch die verwechſe-
lung der kürzen mit längen und beider mit dem tone,
ſo wie durch die vermilchung verſchiedener accente;
eine haupterklärung ihrer vielgeſtaltigen entwickelung
fließt aus dem freilich mit der ſchwächung der quanti-

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[24/0050] I. von den buchſtaben insgemein. formen und den neuhochd. menſch, fiſcher, ſalbte, in denen die tieftöne tonlos geworden und verſchluckt ſind, haben grade gelegen, welche man im mittelh. ſuchen muß. Hier ſchwebte menniſche ſchon über in meniſche mit der zweiten ſtumm, ſelbſt in die abwer- fung des letzten e; bei Boppo (2. 233 a) reimt me- neſch auf theneſch ſtumpf. Im 12. jahrh. konnten ſich reime wie menniſchen: fiſchen finden (Maria 1029 men- niſche: tiſche). Das mittelh. viſchære hat die zweite noch tieftonig, tonlos aber ſalbete. Ferner, im mittelh. iſt von zwei kurzen ſilben die zweite ſtumm (laden, manic, lëſen) aber auf eine erſte lange folgt die zweite tonlos (ſlâfen heilic, ſælic); doch bei verlängerter endung bricht der alte tiefton hervor (ſæligen: genigen). wie uns Lachmann lehrt. Der alth. acc. ſâlîgan hatte ge- wiß den nämlichen tiefton, vermuthlich auch der nom. ſâlîg (O. II. 16, 50: wîg). Sollte ſich die nord. doppelte form heilagr und helgr anſchlagen laßen? in letzterer iſt der ſtumme vocal ausgefallen, in erſterer der be- tonte geblieben. Und hätte im goth. liubana (carum) und frumana (probum) die zweite ſilbe deutlich ver- ſchiedenen accent gehabt? Es ließen ſich zweifel vor- bringen. 4) daß es ſtumme laute auch ſchon im goth. gegeben habe, bezweifle ich gar nicht, weil gerade der Gothe in manchen fällen vocale auswirſt, wo ſie im alth. noch tonlos oder ſtumm ſtehen bleiben, namentlich zwiſchen muta und liq. z. b. fugls, rign, alth. fogal: rëgan. Dieſe neigung zieht durch die goth. ſprache, und be- weiſt das eigenthümliche gothiſcher accentuation. Die geſchichte der accente wird ſich alſo mit der ſehr ver- ſchiedenen entwickelung der bildungs- und flexions- triebe jeder mundart vertraut zu machen haben und dies ſind unterſuchungen, worauf unſere jetzige grammatiſche kenntniß noch nicht recht gerüſtet iſt. Wegwerfen der buchſtaben. Die ſprache ändert ſich nicht allein durch den über- gang von buchſtaben in andere, durch die verwechſe- lung der kürzen mit längen und beider mit dem tone, ſo wie durch die vermilchung verſchiedener accente; eine haupterklärung ihrer vielgeſtaltigen entwickelung fließt aus dem freilich mit der ſchwächung der quanti-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/50>, abgerufen am 29.03.2024.