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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Besonnenheit.
die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene
Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren
Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst-
sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich
auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so -- ist der Mensch kein Böse-
wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge-
lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber
nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende
Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden
in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver-
brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten
Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter-
drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des
Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley's
Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth-
wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und
kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen.

§. 24.

Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die
im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über-
haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt-
leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im
Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als
den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine
der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist.

Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt
oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall,
einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi-
schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän-
den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn-
reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner
Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es
hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel
des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie
ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind
durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu
massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb),
und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere
Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles
Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel-
lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass
auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein

Die Besonnenheit.
die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene
Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren
Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst-
sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich
auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so — ist der Mensch kein Böse-
wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge-
lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber
nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende
Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden
in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver-
brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten
Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter-
drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des
Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley’s
Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth-
wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und
kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen.

§. 24.

Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die
im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über-
haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt-
leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im
Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als
den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine
der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist.

Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt
oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall,
einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi-
schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän-
den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn-
reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner
Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es
hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel
des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie
ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind
durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu
massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb),
und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere
Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles
Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel-
lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass
auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein

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[36/0050] Die Besonnenheit. die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst- sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so — ist der Mensch kein Böse- wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge- lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver- brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter- drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley’s Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth- wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen. §. 24. Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über- haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt- leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist. Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall, einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi- schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän- den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn- reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb), und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel- lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/50>, abgerufen am 28.03.2024.