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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Freiheit.
auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und
es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs-
masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge-
zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor-
stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider-
streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird,
ist die Thatsache der menschlichen Freiheit.

Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün-
dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela-
tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse
frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst,
indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu-
rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star-
ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu,
damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte
Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die
eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und
ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich
(§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs-
complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und
damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und
geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der
Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist
weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt
und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich
wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor-
stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet
hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit
senden könnte.

Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht,
so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be-
züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem
seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch
mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen
constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con-
flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern
sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im
Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen
Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das
Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite
neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle
böse handeln müsse; auch in ihm ist die Ideenassociation thätig und indem sie

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Die Freiheit.
auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und
es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs-
masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge-
zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor-
stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider-
streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird,
ist die Thatsache der menschlichen Freiheit.

Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün-
dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela-
tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse
frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst,
indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu-
rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star-
ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu,
damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte
Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die
eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und
ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich
(§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs-
complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und
damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und
geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der
Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist
weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt
und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich
wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor-
stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet
hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit
senden könnte.

Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht,
so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be-
züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem
seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch
mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen
constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con-
flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern
sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im
Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen
Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das
Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite
neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle
böse handeln müsse; auch in ihm ist die Ideenassociation thätig und indem sie

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[35/0049] Die Freiheit. auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs- masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge- zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor- stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider- streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird, ist die Thatsache der menschlichen Freiheit. Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün- dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela- tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst, indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu- rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star- ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu, damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich (§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs- complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor- stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit senden könnte. Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht, so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be- züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con- flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle böse handeln müsse; auch in ihm ist die Ideenassociation thätig und indem sie 3 *

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/49>, abgerufen am 29.03.2024.